Führungsstreit Die Harakiri-Politik der Piraten

Mit Rücktrittsforderungen und verbalen Ausfälle debattiert die Piratenpartei über eine Neubesetzung der Parteispitze. Damit steuert sie immer weiter in die Krise. Parteichef-Schlömer steckt in einem Dilemma.

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Nah am Abgrund - „Dass wir ständig über uns selbst streiten, ist das große Problem der Piraten“, so Parteichef Bernd Schlömer Quelle: dapd

Als die Bildungsministerin ihren Doktortitel verloren hatte, lief auch das Handy von Parteichef Bernd Schlömer heiß. Per Mail und SMS wurde der Chef der von manchen immer noch als Interessensvertretung der Raubkopierer wahrgenommenen Partei um eine Stellungnahme zum prominenten Plagiatsfall gebeten.

Doch stattdessen musste Schlömer der Lieblingsbeschäftigung seiner Partei nachgehen: Der Selbstbespiegelung. Denn die Parteispitze diskutierte mit mehr als 200 Mitgliedern, ob eine Neuwahl des Vorstandes beim kommenden Parteitag die derzeitigen Probleme lösen könne.

„Ich kann kein Statement zu Schavan abgeben, weil wir wieder über uns selbst diskutieren“, schimpfte ein genervter Schlömer.

„Doch kannst Du, ich mache das doch auch parallel“, entgegnete der politische Geschäftsführer Johannes Ponader.

„Nein, ich kann mich nicht auf zwei wichtige Dinge gleichzeitig konzentrieren“, blaffte Schlömer zurück.

Die Werkzeuge der Piraten
PiratenpadEs ist der kollektive Notizblock der Piratenpartei: Im Piratenpad können gemeinsam Protokolle geschrieben oder Pressemitteilungen entworfen werden. Der Vorteil: In Echtzeit können mehrere Personen ein Dokument online bearbeiten, es wird farblich hervorgehoben, wer was geändert hat – das lässt sich damit unterscheiden. Technische Grundlage ist die inzwischen zu Google gehörende Software EtherPad, die auch Unternehmen nutzen können.
MumbleEines der wichtigsten internen Kommunikationswerkzeuge ist Mumble – eine Mischung aus Chat und Telefonkonferenz. Sogar viele Vorstandssitzungen werden hier abgehalten. Gegenüber klassischen Telefonkonferenzen gibt es mehrere Vorteile: Das Programm lässt sich leicht auf dem Computer installieren und über den Chat kann parallel kommuniziert werden – so können beispielsweise Links verschickt werden. Wenn jemand spricht wird das Mundsymbol neben dem Nutzernamen rot, dadurch kann man die Stimmen besser auseinanderhalten, als bei normalen Telefonkonferenzen. Ähnliche Funktionen bieten auch Skype oder TeamSpeak, dass vor allem von Online-Computerspielern zur Verständigung genutzt wird. Eine Institution bei den Piraten ist vor allem der „Dicke Engel“ (inzwischen umbenannt in ErzEngel). Jeden zweiten Donnerstag um 19:30 Uhr versammeln sich zahlreiche Piraten in diesem Mumble-Raum und diskutieren teils mit Gästen aktuelle Themen.
Liquid FeedbackEin zentrales Element ist das Computerprogramm Liquid Feedback (LQFB), eine Art Abstimmungstool, mit dem ermittelt werden soll, wie die Mehrheit der Partei zu bestimmten Positionen steht. Die Besonderheit: Das Programm gibt den Parteimitgliedern die Möglichkeit, ihre Stimme an eine andere Person zu delegieren, der sie mehr Kompetenz in bestimmten Fragen zutrauen. Allerdings ist Liquid Feedback so revolutionär wie umstritten. Während vor allem der Berliner Landesverband LQFB intensiv nutzte, waren andere Teile der Partei und auch der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz lange skeptisch. Wie intensiv das Programm genutzt wird und welche Bedeutung den Entscheidungen zukommt ist daher noch in der Diskussion.
Wikis  Wikis sind der Klassiker, die meisten Webseiten nutzen eine Wiki-Software. Sie lassen sich leicht erstellen, erweitern und vor allem auch von vielen Beteiligten bearbeiten. Das Piratenwiki ist damit die zentrale Informations- und Koordinationsplattform.   Auch manche Unternehmen setzen inzwischen Wikis ein – vor allem für die interne Kommunikation. Das bekannteste Projekt ist Wikipedia.
Blogs  Auch Weblogs werden intensiv genutzt. Viele Piraten betreiben eigene Blogs, auf denen sie Debatten anstoßen oder bestimmte Dinge kommentieren. Auch die Piratenfraktion Berlin hat nach dem ersten Einzug in ein Landesparlament ein Blog gestartet, um über ihre Arbeit zu informieren.
Twitter  Der Kurznachrichtendienst ist der vielleicht beliebteste Kanal der öffentlichen Auseinandersetzung, kaum ein Tag vergeht an dem nicht irgendeine Äußerung oder ein echter oder vermeintlicher Fehltritt zum #Irgendwasgate und #epicfail ausgerufen werden. 
Diaspora  Auch andere soziale Netzwerke werden natürlich intensiv genutzt. Jedoch ist Facebook beispielsweise bei manchem Piraten schon wieder out. Julia Schramm beispielsweise, Herausforderin von Sebastian Nerz um den Parteivorsitz, hat sich wieder abgemeldet: „Es ist wie ein widerlicher Kaugummi.“ Stattdessen nutzt sie das alternative Netzwerk Diaspora.

Der verbale Schlagabtausch zeigt, wie es um die Piratenführung derzeit bestellt ist. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen haben sie ihren eigenen Balken in den Umfragediagrammen wieder verloren. Von einer neuen politischen Kraft, die das Parteiengefüge durcheinanderwirbelt ist die Partei in die Niederungen der sonstigen Parteien gestürzt und droht, sich dauerhaft zwischen Tierschützern und violetten Spiritualpolitikern wiederzufinden.  

"Die Strategie des Bundes ist Scheiße“

Schlömer hat die Gefahr erkannt und auch einen Grund dafür ausgemacht: „Dass wir ständig über uns selbst streiten, ist das große Problem der Piraten“, erklärte der Parteichef. Neuwahlen vor der Bundestagswahl lehnt er daher strikt ab. Die Personaldebatten würden ein verheerendes politisches Signal senden. „Das führt uns nah an den Abgrund“, warnt der Vorsitzende.

Digitaler Enterhaken - Eine Anleitung zum Kapern der Piratenpartei

Und trotzdem wird er die Führungsdiskussion nicht los. Von der Basis häuft sich die Kritik an der Führung. "Die Strategie des Bundes ist Scheiße“, schimpfte gerade der hessische Landesvorstand auf seiner Internetseite.

Auch der im Vorstand umstrittene politische Geschäftsführer Johannes Ponader drängt immer wieder auf Neuwahlen und präsentierte gestern einen Vorschlag, um die Führungsfrage auf einem zusätzlichen Online-Parteitag zu debattieren. Für Schlömer ein „Harakiri-Akt“ mit erheblichen rechtlichen Unsicherheiten. 

Politischer Selbstmord

Die originellsten Anträge zum Bundesparteitag
Grundrecht auf öffentliche Nacktheit„Wir müssen die Politik nicht neu erfinden, wir müssen neue Programm-Aspekte schaffen“, schreibt ein Antragssteller. Ein solcher könne Nacktheit im öffentlichen Raum als Grundrecht für Menschen sein. Der Antragssteller fordert die ersatzlose Streichung der Paragraphen 183 (exhibitionistische Handlung) und 183a (Erregung öffentlichen Ärgernisses). Quelle: dpa
Erhöhung der Kapitalertragssteuer„Ich beantrage dass die Kapitalerträge mit 65 Prozent besteuert werden“, schreibt ein Antragssteller schnörkellos. Interessant ist allerdings seine Begründung: „Wer Lektüre von Dirk Müller gelesen hat, weiß wie notwendig eine höhere Besteuerung der Kapitaleinträge ist.“ Quelle: dpa
Beseitigung der StaatsschuldenDie große Staatsverschuldung der Bundesrepublik hat ein Antragssteller als Problem erkannt und liefert gleich eine Lösung dafür mit, wie man den Schuldenberg wieder loswerden kann. Die Vermögenden sollen bezahlen. Mit einer einmaligen Vermögensabgabe von 20 Prozent sollte sich die Staatsverschuldung laut Antrag erledigt haben. Quelle: dpa
Ein Herz für LangschläferDer individuelle Tagesrhythmus eines Menschen gehört laut dem Antrag eines Mitglieds zur persönlichen Freiheit. Dass diese durch  Schul- und Arbeitszeiten, Nachtruheregelungen und Öffnungszeiten stark eingeschränkt wird, will der Pirat nicht hinnehmen. Arbeits- und Unterrichtszeiten müssten generell so gestaltet werden, dass die Menschen nicht gezwungen seien, gegen ihre „innere Uhr“ zu leben. Quelle: ap
Keine Chance für PlagiatorenMit Blick auf die Plagiatsaffäre um den zurückgetretenen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg fordert ein Pirat, dass akademische Grade künftig nicht mehr in Ausweispapiere eingetragen werden dürfen. Ohne das Recht, mit einem Doktortitel angeredet zu werden, gebe es weniger Anreize für Plagiatoren argumentiert der Antragssteller. Quelle: dapd
Kinder an die WahlurnenGleich mehrere Anträge an den Bundesparteitag der Piraten kreisen um das Thema Wahlalter. Ein Antragssteller fordert, das aktive Wahlrecht bei Europa-, Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen auf zwölf Jahre herabzusetzen. Ein anderer fordert sogar das Wahlrecht von Geburt an – das stellvertretend von den Eltern ausgeübt werden soll. „Eine konsequente demokratische Verfassungsstruktur muss prinzipiell erst einmal davon ausgehen, dass jeder Mensch eine Stimme besitzt“, heißt es in einer Begründung. Quelle: dpa
Keine pauschalen Kontrollen von FußballfansAuch die Fußballfans liegen den Piraten am Herzen. Ein Mitglied ärgert sich über pauschale Kontrollen vor Stadien – und fordert deren Verbot. Sport sei ein wichtiger integrativer Bestandteil der Gesellschaft, schreibt das Parteimitglied in seiner Begründung. Die Fans sollten als Gäste behandelt werden und nicht als potenzielle Gewalttäter. Quelle: dpa

Der politische Selbstmord vollzieht sich so nun schon seit Monaten. Schon im Vorfeld des Parteitags im letzten Jahr wurde die Führungsfrage gestellt, zwei Vorstandsmitglieder traten auch wegen der schwierigen Zusammenarbeit mit Ponader zurück.

Der jedoch hat einen Rücktritt daran geknüpft, dass auch Schlömer und sein Stellvertreter Sebastian Nerz ihre Ämter zur Verfügung stellen. „Das Gleichgewicht der Strömungen wäre sonst nicht mehr repräsentiert“, sagte Ponader. Denn während Schlömer und Nerz sich als sozial-liberal verstehen, repräsentiert der frühere Sprecher der Occupy-Bewegung den linken Flügel der Partei. 

Das Dilemma der Piraten

Sogar einen neutralen Vermittler zogen Schlömer und Ponader hinzu, um ihren persönlichen Konflikt zu lösen. Seither kämen sie trotz unterschiedlicher Auffassungen und Persönlichkeiten gut miteinander aus, betonten beide. Und doch blitzte der Konflikt auch in der Diskussion immer wieder auf.

So wünscht sich Ponader regelmäßig einen Mediator, um im Vorstandsstreit zu vermitteln. Wozu solle man Mehrheitsentscheidungen nochmal mit einer neutralen Person diskutieren?, entgegnete Schlömer. Und ließ eine kaum verblümte Rücktrittsforderung folgen: „Wer damit nicht umgehen kann ist überfordert und muss seine Funktion in Frage stellen“.

Ein Ergebnis brachte auch die gestrige Diskussion nicht. Und so stecken Schlömer und seine Truppe in einem Dilemma: Versuchen Sie, die verfahrene Situation mit Neuwahlen auf dem Parteitag im Mai zu lösen, würde die damit verbundene Kandidatenfrage zwangsläufig die kommenden Monate dominieren.

Andererseits erweckt die Partei derzeit nicht den Anschein, die Führungsfrage bis zur Bundestagswahl aufschieben zu können. Ponader brachte die Situation auf den Punkt: „Der Streit ist wahrscheinlich wie Kacke am Schuh, die man nicht mehr los wird“.

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