Als die Bildungsministerin ihren Doktortitel verloren hatte, lief auch das Handy von Parteichef Bernd Schlömer heiß. Per Mail und SMS wurde der Chef der von manchen immer noch als Interessensvertretung der Raubkopierer wahrgenommenen Partei um eine Stellungnahme zum prominenten Plagiatsfall gebeten.
Doch stattdessen musste Schlömer der Lieblingsbeschäftigung seiner Partei nachgehen: Der Selbstbespiegelung. Denn die Parteispitze diskutierte mit mehr als 200 Mitgliedern, ob eine Neuwahl des Vorstandes beim kommenden Parteitag die derzeitigen Probleme lösen könne.
„Ich kann kein Statement zu Schavan abgeben, weil wir wieder über uns selbst diskutieren“, schimpfte ein genervter Schlömer.
„Doch kannst Du, ich mache das doch auch parallel“, entgegnete der politische Geschäftsführer Johannes Ponader.
„Nein, ich kann mich nicht auf zwei wichtige Dinge gleichzeitig konzentrieren“, blaffte Schlömer zurück.
Der verbale Schlagabtausch zeigt, wie es um die Piratenführung derzeit bestellt ist. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen haben sie ihren eigenen Balken in den Umfragediagrammen wieder verloren. Von einer neuen politischen Kraft, die das Parteiengefüge durcheinanderwirbelt ist die Partei in die Niederungen der sonstigen Parteien gestürzt und droht, sich dauerhaft zwischen Tierschützern und violetten Spiritualpolitikern wiederzufinden.
"Die Strategie des Bundes ist Scheiße“
Schlömer hat die Gefahr erkannt und auch einen Grund dafür ausgemacht: „Dass wir ständig über uns selbst streiten, ist das große Problem der Piraten“, erklärte der Parteichef. Neuwahlen vor der Bundestagswahl lehnt er daher strikt ab. Die Personaldebatten würden ein verheerendes politisches Signal senden. „Das führt uns nah an den Abgrund“, warnt der Vorsitzende.
Digitaler Enterhaken - Eine Anleitung zum Kapern der Piratenpartei
Um alle Diskussionen verfolgen zu können, genügt eine Registrierung im Internetforum der Partei. Man kann dann auch Dokumente bearbeiten und sich im Chat austauschen. Um persönliche Nachrichten zu senden und zu empfangen ist ein Profil im Wiki notwendig. Wer sich auch an Abstimmungen auf Parteitagen und über „Liquid Feedback“ beteiligen möchte, muss Mitglied werden.
Programm und Positionspapiere werden auf Parteitagen beschlossen. Als vorbereitende Gremien agieren die Arbeitskreise. Wer mitmachen will, sollte erstmal die Mailingliste zu seinem Wunschthema abonnieren und sich dann in die Debatten einbringen. Regelmäßige Anlässe dafür sind die Mumble-Treffen. Dabei kommunizieren die Piraten über die kostenlose Sprachsoftware „Mumble“. Auf „Pads“, also offenen Dokumenten, halten sie Ergebnisse fest.
Einen Antrag stellen darf jedermann, ob Pirat, Privatmann oder Lobbyist. Um Erfolg zu haben, braucht man auf dem Parteitag eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen. Damit der Antrag behandelt wird, genügt es ihn fristgerecht einzureichen.
Jetzt wird es kompliziert: Zwar entscheidet am Ende der Parteitag, aber das heißt nicht, dass man dort auch die Mitglieder überzeugen kann. Da sehr viele Anträge behandelt werden und die meisten Anwesenden daher nur in einzelnen Fachbereichen vorbereitet sind, stellen die Arbeitskreise das entscheidende Gremium dar. Wer einen solchen hinter sich weiß oder ihn oder zumindest gespalten hat, der hat eine Chance.
Auf dem Parteitag wird nach Möglichkeit jeder Antrag behandelt, zumindest auf den Landesparteitagen passiert das auch. Als Antragsteller hat man dann zwei Minuten Zeit, sein Anliegen zu begründen. Doch das entscheidende ist die anschließende Debatte. Hier gilt: Wer zuerst kommt, darf reden. Nach einigen Wortmeldungen wird die Rednerliste meist wieder geschlossen. Eine Koordination der Pro- und Contra-Beiträge findet nicht statt. Wer gewinnen will, sollte deshalb ein paar Anwesende instruieren, das Mikro für ihn zu ergreifen.
Nach der Aussprache kommt die Abstimmung. Ist die Anzahl der Ja-Stimmen mindestens doppelt so hoch wie die der Nein-Stimmen ist der Antrag angenommen und damit Teil des Parteiprogramm.
Und trotzdem wird er die Führungsdiskussion nicht los. Von der Basis häuft sich die Kritik an der Führung. "Die Strategie des Bundes ist Scheiße“, schimpfte gerade der hessische Landesvorstand auf seiner Internetseite.
Auch der im Vorstand umstrittene politische Geschäftsführer Johannes Ponader drängt immer wieder auf Neuwahlen und präsentierte gestern einen Vorschlag, um die Führungsfrage auf einem zusätzlichen Online-Parteitag zu debattieren. Für Schlömer ein „Harakiri-Akt“ mit erheblichen rechtlichen Unsicherheiten.
Politischer Selbstmord
Der politische Selbstmord vollzieht sich so nun schon seit Monaten. Schon im Vorfeld des Parteitags im letzten Jahr wurde die Führungsfrage gestellt, zwei Vorstandsmitglieder traten auch wegen der schwierigen Zusammenarbeit mit Ponader zurück.
Der jedoch hat einen Rücktritt daran geknüpft, dass auch Schlömer und sein Stellvertreter Sebastian Nerz ihre Ämter zur Verfügung stellen. „Das Gleichgewicht der Strömungen wäre sonst nicht mehr repräsentiert“, sagte Ponader. Denn während Schlömer und Nerz sich als sozial-liberal verstehen, repräsentiert der frühere Sprecher der Occupy-Bewegung den linken Flügel der Partei.
Das Dilemma der Piraten
Sogar einen neutralen Vermittler zogen Schlömer und Ponader hinzu, um ihren persönlichen Konflikt zu lösen. Seither kämen sie trotz unterschiedlicher Auffassungen und Persönlichkeiten gut miteinander aus, betonten beide. Und doch blitzte der Konflikt auch in der Diskussion immer wieder auf.
So wünscht sich Ponader regelmäßig einen Mediator, um im Vorstandsstreit zu vermitteln. Wozu solle man Mehrheitsentscheidungen nochmal mit einer neutralen Person diskutieren?, entgegnete Schlömer. Und ließ eine kaum verblümte Rücktrittsforderung folgen: „Wer damit nicht umgehen kann ist überfordert und muss seine Funktion in Frage stellen“.
Ein Ergebnis brachte auch die gestrige Diskussion nicht. Und so stecken Schlömer und seine Truppe in einem Dilemma: Versuchen Sie, die verfahrene Situation mit Neuwahlen auf dem Parteitag im Mai zu lösen, würde die damit verbundene Kandidatenfrage zwangsläufig die kommenden Monate dominieren.
Andererseits erweckt die Partei derzeit nicht den Anschein, die Führungsfrage bis zur Bundestagswahl aufschieben zu können. Ponader brachte die Situation auf den Punkt: „Der Streit ist wahrscheinlich wie Kacke am Schuh, die man nicht mehr los wird“.