„Für einen großen Wurf reicht es nicht“ Das sagen Wirtschaft und Verbände zum Koalitionsvertrag

Das sagen Wirtschaft und Verbände zum Koalitionsvertrag der Ampel Quelle: imago images

SPD, Grüne und FDP präsentieren ihren Koalitionsvertrag. Der Titel des Papiers: „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Was Ökonomen, Wirtschaftsvertreter und Verbände sagen.

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Die Spitzen der drei Ampel-Parteien stellten in Berlin ihren Koalitionsvertrag vor. Das sagen Verbände, Ökonomen und Wirtschaftsvertreter. Ein Überblick:

Marcel Fratzscher, Präsident deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW):
„Der Koalitionsvertrag ist ausgewogen und ambitioniert. Er ist ausgewogen, da er dem Dreiklang an Aufgaben – dem Klimaschutz, der digitalen Transformation und der sozialen Erneuerung – gleichermaßen großes Gewicht gibt. Neben dem Kapitel zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz ist vor allem die soziale Agenda überzeugend. Die wirtschaftspolitische Agenda halte ich für zu wenig ambitioniert. Die Ampel-Koalition will zwar eine schnelle digitale Transformation und eine Entbürokratisierung, die Maßnahmen sind jedoch zu wenig konkret oder nicht immer realistisch. Der Schwerpunkt scheint zu sehr auf einer rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik zu liegen, den Hauptfokus auf die Industrie und Automobilbranche halte ich für ein schlechtes Signal. Ich hätte mir auch einen wesentlich stärkeren Fokus auf Europa und Multilateralismus gewünscht, denn fast alle der besprochenen Bereiche werden eine engere Koordination auf europäischer Ebene verlangen.“

Clemens Fuest, Präsident Ifo-Institut:
„Die Investitionsvorhaben der Ampel werden durch mehrere Instrumente finanziert. Erstens soll die KfW eine wichtige Rolle spielen und falls nötig mit zusätzlichem Kapital ausgestattet werden. So können Investitionen in erheblichem Umfang finanziert werden. Allerdings müssen das Investitionen sein, bei denen es finanzielle Rückflüsse gibt, mit denen die Kredite der KfW bedient werden. Zweitens wird angedeutet, dass im Rahmen von Sondervermögen des Bundes 2021 und 2022 Kredite aufgenommen werden, die dann in den folgenden Jahren Transformationsprojekte finanzieren könnten. Das läuft auf die Bildung einer Art Haushaltsrücklage hinaus.

Drittens sollen staatliche Gesellschaften wie die Deutsche Bahn mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet werden, die ebenfalls kreditfinanziert sind. All das ist im Rahmen der Schuldenbremse möglich. Um der Kritik zu begegnen, dass hier durch Schattenhaushalte die Transparenz und demokratische Kontrolle beeinträchtigt werden, will die Koalition die parlamentarische Aufsicht über diese Haushalte stärken und für mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit sorgen. Die Ampelkoalition verzichtet darauf, die Schuldenbremse über das Jahr 2022 hinaus auszusetzen, obwohl derzeit unklar ist, ob die Pandemie bis dahin überwunden ist. Möglicherweise wird man das noch einmal überdenken. Insgesamt denke ich, dass die Vorhaben mit diesem Maßnahmenpaket finanzierbar sind. Genau wird man das aber erst beurteilen können, wenn die Vorhaben konkretisiert sind.“

Hans Peter Wollseifer, Präsident Zentralverband des deutschen Handwerks:
„Mit dem vorgelegten Koalitionsvertrag bekommt die Ampel endlich konkrete Konturen und wird mit Substanz unterlegt. Das versetzt unsere Betriebe in die Lage, Investitionen sowie Beschäftigungs- und Ausbildungsplanungen vorzunehmen. Unser erster Eindruck ist: Der Vertrag enthält große Ambitionen, etwa beim Klimaschutz, aber auch große Fragezeichen, etwa bei der dringend notwendigen Reform der Sozialen Sicherungssysteme, die zukunftsfest gemacht werden müssen.“

Stefan Wolf, Gesamtmetall-Präsident:
„Deutschland lebt seit Jahren von der Substanz und von den Reformen, die Gerhard Schröder durchgesetzt hat. Eine völlig neue Regierungskonstellation hat die Chance, einen Ruck durch das träge gewordene Land gehen zu lassen. Wir finden nicht jedes Vorhaben notwendig, nicht jeden gewählten Ansatz erfolgversprechend und manches fehlt vielleicht auch – aber in Summe haben die Koalitionäre die Chance genutzt. Davon kann und muss auch dringend ein Aufbruch ausgehen. Im Bereich Arbeit und Soziales ist der neue Koalitionsvertrag sogar deutlich besser als der letzte Koalitionsvertrag der Großen Koalition.“

Frank Werneke, Verdi-Chef:
„Der Koalitionsvertrag ergibt auf den ersten Blick ein sehr gemischtes Bild. Es werde nicht mehr Steuergerechtigkeit durch Vermögens- und Erbschaftssteuer geben. Ein sicherer Pfad für mehr Investitionen zeichne sich nicht ab, und das Beibehalten der Schuldenbremse sei negativ. Im Bereich Arbeit und Soziales gibt es eine ganze Reihe positiver Punkte. So sei der Pflegebonus in Höhe von einer Milliarde Euro ein wichtiges Signal für die Beschäftigten. Der angekündigte Bonus muss nun zeitnah an alle Berufsgruppen in den Krankenhäusern, der Altenpflege, den Reha-Einrichtungen und der Behindertenhilfe ausgezahlt werden.“

Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer deutsche Umwelthilfe:
„Die Handschrift der Autokonzerne ist unübersehbar. Unglaublich, dass die CSU-Autolobby-Politik nahtlos fortgesetzt werden soll. Deutschland soll das Land der Raser, immer größerer SUV-Stadtpanzer und vom Staat finanzierten Klimakiller-Dienstwagen bleiben. Selbst die Subventionierung von Diesel sollen bleiben und die zukünftige Abgasnorm Euro 7 soll 'Wertschöpfung und Arbeitsplätze' nicht gefährden. Keine Maßnahmen, die in den nächsten vier Jahren den CO2-Ausstoß signifikant senken. Kein Tempolimit, kein klares Verbrenner-Aus - im Gegenteil: eFuel-Verbrenner sollen sogar über 2035 fortbestehen. Der Verkehrsteil verstößt klar gegen den von uns mit erwirkten Klimaschutz-Grundsatzentscheid des Bundesverfassungsgerichts. Daher werden wir über unsere bereits anhängige Klimaklage vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Ampel-Regierung zu kurzfristig wirksamen Maßnahmen wie einem Tempolimit auf Autobahnen, Tempo 80 außerorts und Tempo 30 in der Stadt zwingen, mit dem sich bis zu acht Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen lassen.“

Rainer Dulger, BDA-Präsident:
„Vieles weist in die richtige Richtung. Die Digitalisierung, Dekarbonisierung und der demografischer Wandel verlangen allerdings Antworten und einen großen Wurf. Dieser ist leider nicht durchgängig im Koalitionsvertrag erkennbar. Leider hat der Ampel aber der Mut gefehlt, über den Status Quo hinaus neue Freiheiten für Unternehmen und Beschäftigte zu schaffen und Eigenverantwortung zu stärken.“

Dirk Jandura, Präsident Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA):
„Die starke Betonung von Modernisierung, digitalem Aufbruch und Investitionen ist richtig. Bisher hat es an der Umsetzung gehapert, und wir hoffen, dass das nun anders wird. Eine wettbewerbsfähige Wirtschaft ist das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Ohne eine Erneuerung der wirtschaftlichen Grundlagen, ohne leistungsstarke Unternehmen werden wir weder die Bewältigung des Klimawandels noch unseren Sozialstaat finanzieren können. Kritisch zu beurteilen ist die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Kritisch ist auch das Vorhaben, Freihandelsabkommen nachträglich noch durch zusätzliche Forderungen nach verpflichtenden Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtstandards zu überfrachten. Das führt zum Scheitern dieser Handelsabkommen und Deutschland droht, den erleichterten Zugang zu internationalen Märkten an Länder wie China zu verlieren.“

Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer Handelsverband Deutschland (HDE):
„Der HDE sieht positive Ansätze in der geplanten Innenstadtentwicklung und der Digitalisierung, aber auch für ein konzentriertes Krisenmanagement in der Corona-Krise. Die Ampel-Parteien haben erkannt, vor welch großer Herausforderung der Einzelhandel als Wirtschaftskraft steht. Dass er einen festen Platz im Koalitionsvertrag hat, ist ein starkes Signal an alle Händlerinnen und Händler. Kritisch bewertet der HDE hingegen die vorgesehene Anhebung des Mindestlohns. Die politische Festlegung des Mindestlohns kommt einer Entmachtung der Mindestlohn-Kommission gleich.“

Nach wochenlangen geheimen Gesprächen präsentieren die Ampel-Parteien ihren mit Spannung erwarteten Koalitionsvertrag. Die Aufmerksamkeit ist gerechtfertigt, doch das Papier wenig aussagekräftig.
von Max Haerder

Peter Adrian, Präsident deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK):
„Der Koalitionsvertrag ist von konstruktivem Zukunftsgeist geprägt, birgt aber für die unternehmerische Praxis noch etliche Unsicherheiten. Wir müssen in Deutschland besser, schneller und agiler werden. Dafür gibt es gute Ansätze – etwa den festen politischen Willen, Genehmigungs- und Planungsverfahren drastisch zu beschleunigen. Auch das klare Bekenntnis zu konsequenter Digitalisierung, Innovation und technischem Ideenreichtum lässt hoffen. Ein starker Impuls ist auch, die EEG-Umlage beim Strompreis abzuschaffen.

Zu den kritischen Punkten gehört vor allem die unklare Finanzierungsfrage vieler Vorhaben. An einer Reihe von Stellen finden sich kleinteilige Regulierungen, die unternehmerisches Engagement eher ausbremsen. Gerade für deutsche Industrieunternehmen bleibt zudem vage, wie die Bundesregierung ihre weltweite Wettbewerbsfähigkeit absichern will. Denn die Klimaschutz-Anforderungen am Standort Deutschland sind deutlich höher und verbindlicher als in anderen Wirtschaftsräumen und selbst bei unseren EU-Nachbarn.“

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