Wie bei so manchem G20- oder G7-Gipfel zuvor, stehlen die Protestierer in Hamburg den Regierungschefs schon die Show, bevor diese sich überhaupt treffen. Beschrieben werden die Demonstranten und Aktivisten meist als „Globalisierungskritiker“ oder „-gegner“. Aber das ist ein großes Missverständnis. Letztlich stehen sich Demonstranten (vom gewalttätigen „schwarzen Block“ einmal abgesehen) und die meisten G20-Regierungen (von Trump, Erdogan und Putin abgesehen) sehr nahe.
Am Mittwoch schon begann ein alternativer „Gipfel der globalen Solidarität“ unter Federführung der Organisation Attac. Zu dem veranstaltenden Bündnis gehören unter anderem auch die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung, die Naturschutzorganisation Robin Wood und die „Interventionistische Linke“.
Ihre selbstgenannten „zentralen Fragestellungen“ sind von den Zielen der Regierenden der G20-Nationen, vor allem Deutschlands, überhaupt nicht zu unterscheiden: „Wie überwinden wir Armut, Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und Naturzerstörung? Wie können wir soziale und demokratische Rechte global durchsetzen? Wie bekämpfen wir effektiv Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie? Wie erreichen wir ein Gemeinwesen, das auf Kooperation und Selbstbestimmung basiert? Wie sieht eine Wirtschaft aus, die dem Menschen dient?“
22 Zahlen rund um den G20-Gipfel
Ein "Beast" wird durch Hamburgs Straßen fahren: so heißt das Spezialauto von US-Präsident Donald Trump.
Quelle: dpa
Drei Lieblingsfeinde gibt es für die G20-Gegner: Trump, Putin und Erdogan.
Zwölf Waggons hat der Sonderzug, der Aktivisten von Basel durch ganz Deutschland bis nach Hamburg bringen soll.
14 Einlass- und Personenkontrollen gibt es in den Sicherheitszonen rund um die Messehallen.
17 Hubschrauber der Bundespolizei und 11 der Länderpolizeien werden am Hamburger Himmel kreisen.
28 Jahre ist die „Rote Flora“ im Schanzenviertel, ein Zentrum des Anti-G20-Protests, nun schon von Linksautonomen besetzt.
29 Demonstrationen mit G20-Bezug sind zwischen dem 30. Juni und dem letzten Gipfeltag am 8. Juli angemeldet.
30 Lämmer sollen von eigens mitgebrachten Köchen für König Salman bin Abdulaziz Al-Saud und die saudi-arabische Delegation im Hotel „Vier Jahreszeiten“ gegrillt werden.
36 Delegationen mit rund 6000 Delegierten werden erwartet.
38 Quadratkilometer umfasst die Demonstrationsverbotszone.
40 Wasserwerfer der Hamburger Polizei könnten zum Einsatz kommen.
64 Prozent der Weltbevölkerung werden durch die G20 vertreten.
140 Staatsanwälte fahren extra G20-Schichten, insgesamt sind 250 zusätzliche Bereitschaftsdienste eingerichtet.
185 Hunde und 70 Pferde sind für die Polizei im Einsatz.
400 gewalttätige Demonstranten können in der eigens eingerichteten Gefangenensammelstelle in Harburg zeitweise festgesetzt werden.
1096 einzelne Glaselemente bilden die Fassade der Elbphilharmonie, in der Merkel und Co. Beethovens Neunter Sinfonie lauschen.
4245 Tage ist Angela Merkel Bundeskanzlerin, wenn sie am 7. Juli die G20-Kollegen in ihrer Geburtsstadt empfängt.
9349 Kilometer Luftlinie entfernt liegt eine Kneipe, in der man die Aktion „Soli-Mexikaner gegen Trump“ unterstützen kann: das Lokal „Brotzeit“ in Managua (Nicaragua).
12.000 Schokoriegel und 400 Kilogramm Bratwürste stehen im Medienzentrum in der Messe zur Verfügung. Insgesamt sind es rund 15 Tonnen Lebensmittel.
19.000 plus X Polizisten schützen den Gipfel...
100.000 Menschen könnten zu der abschließenden Großdemo „Grenzenlose Solidarität statt G20“ kommen.
185.000 Verpflegungsbeutel stellt die Hamburger Polizei ihren Beamten bereit. Am ersten Gipfeltag gibt es zudem Rindergulasch mit Nudeln.
„Aber genau diese Ziele verfolgen wir doch auch!“, könnten Angela Merkel, Emmanuel Macron oder Justin Trudeau ihnen zurufen. Wirklich zu befürchten haben die Regierenden von diesen Bewegungen daher nichts. Lenin würde wohl urteilen: Es fehlt das „revolutionäre Bewusstsein“. Die Frage nach der Macht ist kein Thema für den Alternativgipfel.
Unter diesen Umständen ist es also kein Wunder, dass Merkel schon im Vorhinein in ihrer jüngsten Regierungserklärung die zu erwartenden Proteste für „mehr als legitim in einer Demokratie“ erklärte, während sie mit Blick auf Trump (zwar ohne ihn beim Namen zu nennen) sehr viel schärfer urteilte: "Wer glaubt, die Probleme dieser Welt mit Isolationismus und Protektionismus lösen zu können, der unterliegt einem gewaltigen Irrtum". Ihre Botschaft ist klar: Attac und Co sind schlimmstenfalls etwas ungezogen, aber letztlich in Ordnung - Trump nicht.
Die Grenzen zwischen den politischen Akteuren und deren vorgeblichen Gegnern werden ohnehin immer unkenntlicher. Vor allem die Grünen, die mit ihrer Jugendorganisation und der Heinrich-Böll-Stiftung zu den Mitinitiatoren des Hamburger Gegengipfels gehören, versinnbildlichen die Auflösung des Gegensatzes zwischen politischer Klasse und Protest-Szene.
Aber auch die deutsche Regierungspartei SPD ist im Lager der Demonstranten vertreten. Beim Gegengipfel „für globale Solidarität“ ist zum Beispiel die NGO „Demokratie ohne Grenzen“ von Andreas Bummel beteiligt, die die Einführung eines UNO-Parlaments fordert, „um die globale Zusammenarbeit zu stärken und zu demokratisieren“. Unterstützer der NGO und Mitautor von Bummels Buchs „Das demokratische Weltparlament“ ist der SPD-Europaabgeordnete und ehemalige saarländische Umweltminister Jo Leinen.
Zehn Dinge, die man über G20 wissen sollte
Die "Gruppe der 20" besteht aus der Europäischen Union und den stärksten Volkswirtschaften aller Kontinente. Das sind folgende 19 Länder: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und die USA.
Die "Gruppe der 20" hat bei jedem Gipfel internationale Organisationen wie die Weltbank und die Vereinten Nationen (UN) zu Gast. Ständiger Gast ist zudem Spanien. Außerdem werden vom Gastgeber in der Regel weitere Länder eingeladen. Diesmal sind es Norwegen, die Niederlande und Singapur.
Die "Gruppe der 20" repräsentiert knapp zwei Drittel der Weltbevölkerung.
Die "Gruppe der 20" vereint vier Fünftel der weltweiten Wirtschaftskraft und drei Viertel des Welthandels.
Die "Gruppe der 20 "wurde zur internationalen Abstimmung in Finanz- und Wirtschaftsfragen gegründet.
Die "Gruppe der 20" beschäftigt sich inzwischen aber auch mit vielen anderen globalen Themen von der Terrorbekämpfung bis zum Klimaschutz.
Die "Gruppe der 20" trifft sich seit 2008 in der Regel einmal im Jahr auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Während der Finanzkrise 2009 und 2010 gab es sogar zwei Treffen. Schon seit 1999 treffen sich die Finanzminister und Notenbankchefs jährlich.
Die "Gruppe der 20" beschließt bei ihren Gipfeltreffen gemeinsame Erklärungen, die zwar rechtlich nicht bindend sind, politisch aber trotzdem eine starke Signalwirkung haben.
Die "Gruppe der 20" kommt auf Spitzenebene dieses Jahr erstmals in Deutschland zusammen und zum dritten Mal in Europa.
Die "Gruppe der 20" tagt nächstes Jahr in Argentinien, das am 1. Dezember die Präsidentschaft von Deutschland übernimmt.
Auch die zur Schau getragene Kritik an den großen, weltweit agierenden Konzernen wirkt eher theatralisch als unversöhnlich. Schließlich haben sich – bald 50 Jahre nach „68“ – auch die Demonstranten in der westlichen Welt längst an die ungeschriebenen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie angepasst und professionalisiert.
Attac, Greenpeace und Konsorten agieren längst selbst wie multinationale Konzerne. Zwar fehlen die Aktien, doch attraktive Renditen schütten sie ihren Stakeholdern reichlich aus. Im Angebot haben sie unter anderem: ein gutes Gewissen, gemeinschaftliches Ausleben von Empörung und Zurschaustellung von moralischer Überlegenheit und Rechtschaffenheit. Und nicht zuletzt einfach Spaß und Unterhaltung.
Demo-Woche als bunter Spaß
Die Demo, zu der Attac für Samstag aufruft, soll „laut, bunt und vielfältig“ werden. Das Bündnis BlockG20 wirbt unter dem Motto "colour the red zone – die rote Zone bunt machen" für „Aktionen des kreativen zivilen Ungehorsams und des bunten Widerstands gegen den G20-Gipfel“ auf.
Bunt und kreativ soll es also zugehen. Mit anderen Worten: Man verspricht Spaß. Und ein gutes Gewissen gibt es als Bonus noch dazu. Ist so eine Demo-Woche in Hamburg nicht unterhaltsamer als jede Urlaubsreise?
Außerdem sind natürlich auch die üblichen „engagierten“ Musiker zu genießen: Der unvermeidliche Herbert Grönemeyer vorneweg, dazu Coldplay, Pharell Williams, Rihanna und andere werden am Donnerstag zum „Global-Citizen-Festival“ aufspielen. Sie tun das gratis. Was ist schon ein schnödes Honorar gegen die Gewissheit, „ein Zeichen für eine gerechtere Welt“ (so die Veranstalter) zu setzen.
Die Protestbewegung gegen die G7- und G20-Gipfel ist längst zu einem unterhaltsamen Spektakel geworden, zu einer Karikatur einstiger politische Kämpfe. Man spielt noch einmal nach, was Mama und Papa 1968 vormachten.
Schon damals aber war das Karikaturenhafte einer Bewegung erkennbar, die mit theatralischer Heldenpose Tore einrannte, die kaum noch verteidigt wurden. Man fabulierte von der Revolution und hüpfte zum Sound von „Street Fighting Man“ durch die Universitätsstädte. Aber schon bald wurde aus den Rolling Stones ein bis heute Milliarden umsetzendes Unterhaltungsunternehmen. Der Kapitalismus war stärker – und die Teilhabe an ihm so viel angenehmer als die Revolution.
Die Demonstranten von Hamburg mögen sich „links“ nennen, aber als ernstzunehmende politische Kraft ist die einstige westliche Linke längst aufgesogen und mitgerissen worden von einer Dynamik der Entgrenzung, die von ganz anderen Kräften angetrieben wird: nämlich von denen des Kommerzes. Von der Kampfansage der früheren Linken sind nur Etiketten übrig geblieben. Und diese haben sich die Regierenden und Wirtschaftenden längst selbst angeklebt. Alles ließe sich auf den Nenner bringen: Eine bessere Welt schaffen.
Wem die ernste Sorge um die Opfer und Verlierer der ökonomischen Globalisierung wichtiger ist als der Demo-Spaß, der muss sich andere als die oben genannten Fragen stellen. Nämlich ernsthafte, wirklich politische Fragen:
Wer kann eher „den Kapitalismus zähmen“ und die Interessen der Marktverlierer gegen die Interessen des Kapitals vertreten – eine Welt-Demokratie, deren Machbarkeit fraglich ist, oder funktionierende Demokratien? Auf welcher Organisationsebene ist jenseits der Phrasen und bunten Demo-Plakate tatsächliche Solidarität für diejenigen zu erwarten, die auf künftigen Arbeitsmärkten geringe Chancen haben - in einer amorphen Weltgemeinschaft oder in den funktionierenden Solidargemeinschaften der Nationalstaaten?