G20-Gipfel in Hamburg Kontrollverlust in d-moll

Der G-20-Gipfel sollte der deutschen Kanzlerin große Fortschritte auf der Weltbühne liefern. Oder wenigstens schöne Bilder. Daraus wurde ein neues Fanal staatlicher Hilflosigkeit. Ein Kommentar.

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Das Hamburger Schanzenviertel am Samstagmorgen. Quelle: dpa

Weltpolitisch fiel die Bilanz des ersten G20-Gipfeltages überschaubar aus. Bisschen Klima, schwieriger Freihandel, ein erstes Treffen von Putin und Trump. Sicherheitstechnisch darf man das Event dagegen schon jetzt historisch nennen. Die Freie Hansestadt Hamburg erlebte Chaos, Gewalt und einmal mehr staatlichen Kontrollverlust. Zum zweiten Mal nach den Exzessen rund um den Kölner Hauptbahnhof.

Schon am Freitagfrüh okkupierten Dutzende vermummte Schläger Hamburgs schönste und teuerste Straße, die Elbchaussee. Sie rannten nicht, sie flanierten, als machten sie einen Sommerspaziergang. En passant zerstörten sie Bushaltestellen, warfen Scheiben ein und fackelten Autos ab. Polizeikräfte waren nicht zu sehen. Anwohner filmten den Mob hilflos mit ihren Handykameras aus schützenden Dachwohnungen.

Einige Straßen weiter liegt eine kleine Einkaufszeile der noblen Elbvororte. Das Dramatischste, was in der Waitzstraße lange passierte, war gelegentlich ein verwirrter Rentner, der beim Einparken seines Automatik-SUV Gas und Bremse verwechselte und in einen der Läden rauschte. Am Freitagmorgen wurde auch diese Idylle heimgesucht. Eine Gewalt-Guerilla zerschlug die Scheiben aller vier Bankfilialen. Polizei war ebenso wenig in Sicht wie ein paar Kilometer weiter, wo zwei Kriminelle ein Straßenschild in die Schaufenster der Ikea-City-Filiale rammten. Wieder und wieder, als sei das hier ein Abenteuerspielplatz. Ohne dass irgendjemand einschritt.

Abends dann eskalierte die Situation in dem für seine linksextremen Krawall-Folklore ohnehin berüchtigten Schanzenviertel endgültig: Barrikaden brannten, Läden wurden geplündert, Steine, Brandsätze und Gehwegplatten flogen. Doch Wasserwerfer und etliche Hundertschaften warteten auch da lange ab und überließen dem Terror die Straße, bevor in der Nacht zum Samstag mit der Räumung begonnen wurde. Nur zur Erinnerung: Wir sind nicht in den No-go-Areas von São Paulo oder Mogadischu, sondern in Hamburg.

Die Kanzlerin hat sich noch am Abend von der Gewalt distanziert. Hieß es. Die Sicherheit der Gipfelteilnehmer sei gewährleistet. Hieß es. Dumm nur, dass für die Sicherheit von Hamburgs Bürgern plötzlich niemand mehr garantieren konnte.

Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz wirkte schon weit weniger selbstsicher als noch im Vorfeld des Gipfels, als er am Abend in der Elbphilharmonie zu dem Chaos befragt wurde, das da seine Stadt gerade in Flammen setzte. Der SPD-Politiker zeigte sich „sehr besorgt über die Zerstörungen, die stattgefunden haben“ und appellierte an die „Gewalttäter, ein friedliches Miteinander möglich zu machen“. Mehr Hilflosigkeit war selten, was weniger ihm oder den rund 20000 Einsatzkräften anzulasten ist, sondern dem marodierenden Mob. Und trägt nicht die Kanzlerin selbst hier eine große Mitverantwortung?

Sie war es, die sich Hamburg gewünscht hätte als Bühne eines politischen Gipfels von Weltrang. Sie schwärmte wieder und wieder von der symbolischen Kraft einer Hafenstadt wie Hamburg, das sich als „Tor zur Welt“ ja immer auch als Repräsentant und Verteidiger eines globalen Freihandels verstehe. Und sie, die als studierte Physikerin Dinge doch so gern vom Ende her denkt, war es auch, die für diesen Plan alle Risiken einzugehen bereit war.

Die Befürworter des Gipfelortes Hamburg mahnen gern, man dürfe sich nicht von gewaltbereiten Terror-Touristen vorschreiben lassen, wo so ein Gipfeltreffen stattfinden soll. Stimmt. Aber man darf auch nicht die Zivilgesellschaft einer Millionen-Metropole in Geiselhaft nehmen für einen am Ende doch sehr überschaubaren PR-Plan. Merkel wollte den Gipfel nutzen, um in punkto Freihandel oder Klimaschutz Akzente zu setzen mit den anderen Staats- und Regierungschefs. Und wenn es da nicht einmal zu einem Minimalkompromiss reicht (wonach es am Samstagfrüh aussieht), sollten wenigstens ein paar schöne Bilder her zum innenpolitischen Wahlkampfauftakt.

Von der sonnenbeschienenen Alster. Von lachenden Regenten. Von der Bundeskanzlerin im roten Sakko zwischen all ihren männlichen Weltenlenker-Kollegen in den dunklen Anzügen. Und natürlich von der Elbphilharmonie, wo man abends gemeinsam Beethovens 9. Sinfonie hörte. d-moll. Opus 125. Beethovens letzte vollendete Sinfonie und in jeder Hinsicht ein musikalisches Massiv wie die „Elphi“ eines für die zeitgenössische Architektur ist oder Merkel mittlerweile für die Weltpolitik.

Es hatte dann aber eher absurde Züge, wie in den Nachrichtensendern rund um den Globus die Bilder der Straßenschlachten mit den teils gelangweilten Musikgästen gegengeschnitten wurden, untermalt von den Klassikklängen und Friedrich Schillers „Freude, schöner Götterfunken“, während im Schanzenviertel mehr als nur die Luft brannte. So wie übrigens vor eineinhalb Jahren am Kölner Hauptbahnhof, als hunderte von Flüchtlingen über meist weibliche Silvester-Gäste herfielen.

Köln änderte alles … die hiesige Willkommenskultur, die Debatte um innere Sicherheit, die gesellschaftliche Wahrnehmung und die Politik gleich mit. Insofern muss Merkel aufpassen, dass ihr die Lage nun nicht wieder entgleitet. Mehr Chaos, Gewalt und vor allem Kontrollverlust war jedenfalls selten als hier inmitten der sonst so fröhlichen zweitgrößten deutschen Stadt.

Am Samstagfrüh gleicht das Viertel noch immer dem Schlachtfeld eines Bürgerkrieges. Hubschrauber kreisen über der Stadt. In der Schanzenstraße und drum herum rauchen kokelnde Barrikaden. Im völlig verwüsteten Rewe-Markt wird Selbstbedienung weiter anders definiert, ohne dass die Polizei einschreiten würde. Pflastersteine und Trümmerteile blockieren die Wege. Kriegsgebiete sehen so aus, aber nicht Wohn- und Geschäftsstraßen einer hochentwickelten Industriegesellschaft.

Nur ein paar - im wahrsten Sinne des Wortes - Steinwürfe entfernt machen sich die G20-Sherpas zu diesem Zeitpunkt an die filigrane Arbeit möglicher Abschluss-Communiqué-Kompromisse. Es geht hier angeblich auch noch um Politik. Für heute sind aber auch weitere Demonstrationen angekündigt. Die bisherige Bilanz: Rund 200 verletzte Beamte. Elf verletzte Demonstranten. Etwa 100 Festnahmen. Sachschäden in Millionenhöhe.

Und dabei ging noch etwas weit Wertvolleres, eigentlich Unbezahlbares zu Bruch: Vertrauen. Nun schon zum zweiten Mal.

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