WirtschaftsWoche: Herr Görg, Kanzler Olaf Scholz hat vor seinem Amtsantritt vergleichsweise wenig außenpolitische Erfahrung gesammelt. Ist Geopolitik seine offene Flanke?
Holger Görg: Er ist tatsächlich eher ein Newcomer im Bereich Geopolitik, aber angesichts von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine musste er sich kurz nach seinem Amtsantritt schnell in das Thema einarbeiten. Für lange Strategiearbeit fehlt ihm angesichts der Krisen bisher offensichtlich die Zeit, wie sein geopolitischer Schlingerkurs zeigt.
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hatte Scholz angekündigt, für eine neue Form der Globalisierung stehen zu wollen. Nun ist er als erster westlicher Staatschef nach Xi Jinpings Wiederwahl nach Peking gereist – den Hamburger Cosco-Deal hatte er als Mitbringsel im Gepäck. Ist das ein Beispiel für kluge Globalisierung?
Olaf Scholz hat damit zumindest gezeigt, dass er einen pragmatischen Ansatz zum Umgang mit China hat und sich weigert, dass zu übernehmen, was andere machen, nämlich in Schwarz und Weiß zu denken. China ist einer der wichtigsten Handelspartner für Deutschland, gleichzeitig sind wir aber einer der wichtigsten Handelspartner für China. Das hat er im Kopf. Im Vergleich zu den Reisen seiner Vorgängerin Angela Merkel ist die Wirtschaftsdelegation doch eher im Hintergrund geblieben.
Im Februar hat Scholz mit der sogenannten Zeitenwende eine radikale Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik ausgerufen. Spiegelt sich die Zeitenwende nun in einer geopolitischen Strategie wider?
Es gibt noch keine Anzeichen dafür, dass es wirklich zu einer Zeitenwende gekommen ist. China war schon vorher ein Thema, denn die Coronakrise mit ihren unterbrochenen Lieferketten hat die Abhängigkeit noch einmal besonders deutlich gemacht. Zeitenwende ist ein Wort, das sich schnell ausrufen lässt – aber in Scholz‘ Politik spiegelt sie sich noch nicht wider, wie allein das Hin und Her um die Waffenlieferungen zeigt.
Zur Person
Holger Görg ist Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und Professor für Außenwirtschaft an der Christian-Albrecht-Universität.
Lange hat Deutschland seine Energiesicherheit auf Russland aufgebaut, seine militärische Sicherheit den USA überlassen – und seinen exportgetriebenen Wohlstand in die Hände Chinas gelegt. Wie muss eine kluge Geopolitik künftig aussehen?
Sowohl im Bereich Energie als auch bei den Exporten und Importen muss sich Deutschland schneller und stärker diversifizieren. Es geht um neue Partnerschaften und die Erschließung neuer Quellen. Und bestehende Partnerschaften, insbesondere zu den USA, müssen gestärkt werden.
Aktuell ist die transatlantische Beziehung allerdings angespannt. Während Scholz auf der Weltklimakonferenz erneut für einen gemeinsamen Kampf gegen die Erderwärmung wirbt, setzen die USA ihren Inflation Reduction Act (IRA) mit Milliarden-Subventionen um. Wie sollte Deutschland darauf reagieren?
Deutschland kann nur gemeinsam mit anderen EU-Partnern darauf reagieren. Gemeinsam muss geklärt werden, ob und wie wichtig es ist, innerhalb der EU die Produktion von E-Autos und Batterien voranzutreiben. Aber dabei droht ein Subventionswettbewerb, der am Ende keinem etwas bringt – und zwar weder den USA, noch den Europäern und auch nicht den Chinesen.
Wissenswertes zum G20-Gipfel auf Bali
Die „Gruppe der 20“ (G20) besteht aus der Europäischen Union und den stärksten Volkswirtschaften aller Kontinente. Das sind folgende 19 Länder:
Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und die USA.
Die teilnehmenden Länder repräsentieren knapp zwei Drittel der Weltbevölkerung, vereinen vier Fünftel der weltweiten Wirtschaftskraft und drei Viertel des Welthandels auf sich.
Bei jedem Gipfel sind weitere internationale Organisationen wie die Weltbank und die Vereinten Nationen (UN) zu Gast. Außerdem hat der Gastgeber das Recht, weitere Staaten einzuladen. Indonesien hat sich dieses Jahr für die Niederlande und die Ukraine entschieden.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine Teilnahme am diesjährigen G20-Gipfel abgesagt. Stattdessen schickt er Außenminister Sergej Lawrow als Vertretung auf Bali. Aufgrund einer Einladung des Gastgeberlandes Indonesiens wird die Ukraine am Gipfel teilnehmen – der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll per Video zugeschaltet werden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird bei der Arbeitssitzung „Ernährungs- und Energiesicherheit“ Thema sein.
Die Gruppe der G20 trifft sich seit 2008 in der Regel einmal im Jahr auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Während der Finanzkrise 2009 und 2010 gab es sogar jeweils zwei Treffen. Schon seit 1999 treffen sich die Finanzminister und Notenbankchefs jährlich.
Bei ihren Gipfeltreffen einigen sich die Staats- und Regierungschefs der Länder in der Regel auf gemeinsame Erklärungen, die zwar rechtlich nicht bindend sind, politisch aber trotzdem eine starke Signalwirkung haben.
Ob es in diesem Jahr eine geben wird, ist wegen der massiven Differenzen der westlichen Staaten vor allem mit Russland unklar. Möglicherweise gibt es auch nur eine Zusammenfassung der Diskussion durch die Präsidentschaft, in der dann auch die Differenzen in einzelnen Punkten festgehalten werden.
Indien wird im nächsten Jahr Gastgeber sein. Der nächste Gipfel soll im September 2023 in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi stattfinden. Während des diesjährigen Gipfels auf Bali ist eine Übergabezeremonie geplant.
Wohin könnte ein Subventionswettbewerb führen?
Zunächst einmal werden Milliarden ausgegeben, um Industrien hier anzusiedeln, die aber schnell wieder weg sind, wenn die Subventionen wegfallen. Die Produkte werden auch teurer angeboten, weil der Markt verzerrt wird, als wenn sie sich in einem offenen ökonomischen Wettbewerb durchsetzen müssten. Am Ende bleibt nur eine gigantische Geldverschwendung übrig.
Der Trade and Technology Council, den die USA und die EU 2021 gestartet haben, soll genau das eigentlich verhindern. Ist er das richtige Instrument?
Die Möglichkeiten des Councils sind sicher noch nicht ausgereizt. Aber der politische Wille scheint dafür auch nicht da zu sein. In den USA wird weiterhin und gerade auch in der Krise nationalistisch und protektiv gedacht, da unterscheidet sich Joe Biden kaum von seinem Vorgänger Donald Trump.
Am Dienstag beginnt das G20-Treffen auf Bali. Wann wäre das Treffen für Scholz ein Erfolg?
Klimaneutralität und die Handelbeziehungen sind hier die großen Themen neben dem Krieg in der Ukraine. Scholz sollte darauf hinarbeiten, dass sich keine Miniclubs in der G20-Gruppe bilden, sondern das Ziele gemeinsam erarbeitet werden. Grundsätzlich gilt, dass für die Zeitenwende nicht mehr viel Zeit bleibt. Den schönen Worten müssen jetzt endlich Taten folgen.
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