Sigmar Gabriel steht jetzt schon einige lange Minuten in der unerbittlichen Mittagssonne vor dem Amtssitz des griechischen Premiers und redet trotzdem unablässig in die aufgebauten Kameras. Gerade hat er sich herzlich von Alexis Tsipras verabschiedet.
Das Gespräch hat deutlich länger gedauert als die eingeplante Stunde, der griechische Wirtschaftsminister - mit dem Gabriel sich eigentlich danach treffen wollte - wurde einfach dazu geholt. Ein gutes Zeichen. Gabriel redet über mehr private Investitionen in Griechenland, über bessere Verwaltung, und was deutsche Firmen dem Land zu geben hätten.
Die Hitze drückt. Aber der Vizekanzler ist zufrieden. Dann fällt das Wort der Stunde. Brexit.
Die wichtigsten Antworten im Poker um neue Griechenlandhilfen
Die Ressortchefs wollen griechische Spar- und Reformschritte bewerten. Wenn die - seit Monaten verzögerte - Überprüfung des im vergangenen Jahr gestarteten Hilfsprogrammes abgeschlossen wird, ist der Weg für weitere Milliardenhilfen aus dem Euro-Rettungsschirm ESM geebnet.
Eher gut. Ein ganz wichtiger Punkt sind die griechischen Reformbemühungen, vor allem im Renten- und Sozialsystem. Am Sonntag verabschiedete das Parlament in Athen ein weiteres Sparpaket. Darin sind Steuererhöhungen vorgesehen, Tanken, Rauchen und Telefonieren etwa dürften in Zukunft deutlich teurer werden. Die Maßnahmen sollen rund 1,8 Milliarden Euro in die Staatskasse spülen.
Das Parlament beschloss außerdem eine insbesondere vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderte Schuldenbremse. Diese soll greifen, falls Griechenland Sparziele nicht erfüllt. Sie ist notwendig, weil der Weltwährungsfonds die Budgetaussichten des Landes deutlich pessimistischer einschätzt als die europäischen Partner.
Er rechnet mit einer Einigung der Geldgeber über die Freigabe weiterer Griechenland-Hilfen. „Wir kriegen das hin, wir sind auf gutem Weg“, hatte der CDU-Politiker am Samstag in Japan gesagt. „Ob wir am Dienstag fertig werden, weiß ich nicht“, schränkte er jedoch ein.
Allein im Juli muss Griechenland zusammen 3,67 Milliarden Euro an den IWF, die Europäische Zentralbank (EZB) und andere Gläubiger zurückzahlen. Das Geld fehlt aber zur Zeit in den Staatskassen. In der Debatte ist ein hoher Auszahlungsbetrag in der Spanne von neun bis elf Milliarden Euro. Das dritte Rettungsprogramm hat insgesamt einen Umfang von bis zu 86 Milliarden Euro.
Ja. Selbst nach einer Einigung zwischen den Eurostaaten und Griechenland dürften noch einige Wochen vergehen, bevor Geld nach Athen fließen kann. In einigen Ländern des gemeinsamen Währungsraums, unter anderem in Deutschland, müssen nationale Parlamente vor einer endgültigen Entscheidung noch zustimmen.
Die Euro-Minister legten zum ersten Mal einen Zeitplan vor. Das reicht dem IWF aber offenkundig nicht aus. Es sickerte ein weitgehender Plan durch, wonach die Europäer Zinsen und Rückzahlungen bis 2040 aufschieben sollten. Das Thema ist politisch extrem kompliziert, zumal Schäuble mehrfach sagte, Schuldenmaßnahmen seien für die nächsten Jahre gar nicht nötig.
Bisher nicht. Vor allem Deutschland pocht auf eine Beteiligung des Fonds. Ob es rasche Bewegung geben wird, ist offen. Die eloquente IWF-Chefin Christine Lagarde ist verhindert und wird bei der Eurogruppe gar nicht am Tisch sitzen.
Und Gabriel schaltet sofort noch einen Gang höher. "Europa darf sich nicht aufspalten", sagt er. Der Kontinent müsse seine drei Versprechen wieder einhalten: Frieden, Demokratie, aber vor allem auch "Wohlstand für alle - und den realisieren wir gerade nicht". Während seines Gesprächs mit Tsipras landet in Athen die Nachricht, dass Boris Johnson in London nicht britischer Premierminister werden will. Als Gabriel deshalb gefragt wird, ob das ein Thema gewesen sei, kommt ein wenig Spott in sein Gesicht. "Wir haben Wichtigeres zu tun gehabt."
Die Reise des deutschen Wirtschaftsministers nach Athen war lange geplant. Griechenland, das war über Jahre nur Krise, Chaos, Eurodämmerung. Nun, so langsam, zeigen sich trotz schlechter Stimmung in der Bevölkerung zarte Zeichen der Stabilisierung. Erste Reformen im Gegenzug für die EU-Milliarden aus dem ESM-Hilfstopf sind in Kraft getreten.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
40 Unternehmensvertreter hat Gabriel im Tross dabei, um ihnen nun weitere Türen für die deutsche Wirtschaft zu öffnen. So langsam wächst auch in der linken Syriza-Regierung die Ahnung, dass staatliche Investitionen alleine das Land nicht aus der Rezession holen werden.
Doch eine Woche nach der so überraschenden wie historischen Entscheidung der Briten ist der zweitägige Besuch Gabriels in Athen auf einmal mehr als die übliche politische Promotion-Tour für deutsches Wirtschafts-Know-how, kein normaler Regierungsstandard. Sondern ein Versuch, Antworten auf die neue, drängende gesamteuropäische Krise zu formulieren. In einem Brief an die Mitarbeiter der Bundeswirtschaftsministeriums, der am Freitag öffentlich wurde, fordert Gabriel eine "wirtschaftliche Trendwende". Deren Ziel müsse mehr Wachstum, Beschäftigung und der Abbau sozialer Ungleichheiten sein.
Sonst drohte Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaften. Im Zuge dessen müsse der EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt wachstumsfreundlicher angewandt und flexibler gestaltet werden. Gabriel spricht von einer "Reform des Pakts". Es müssten in den nationalen Haushalten "größere Spielräume für eine offensive Investitionspolitik" geschaffen werden.
Die Botschaft ist eindeutig: der SPD-Chef und Vizekanzler skizziert eine Alternative zum Kurs der Bundeskanzlerin.