Gaia-X „Der Staat und Unternehmen machen sich erpressbar“

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„Gaia-X hat ein Glaubwürdigkeitsproblem“

Die Absprache regelt den Schutz personenbezogener Daten, die aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union in die USA übertragen werden. Der Europäische Gerichtshof hat sie für nichtig erklärt.
Genau. Haben Sie da irgendwelche Auswirkungen gesehen? Ich nicht.

Ist das Datenschutz-Problem vielleicht nicht ganz so groß wie mancherorts beschrieben, oder ist es den Leuten egal? Sonst müssten die Leute ja schon längst alle bei Ihnen Schlange stehen.
Das Problem ist groß, denn sowohl der Staat als auch Unternehmen machen sich erpressbar. Und wie soll ein Staat souverän agieren, wenn seine geheimen Dokumente für Dritte einsehbar sind? Aber jeder schaut so ein bisschen auf den anderen und wartet, dass der andere sich bewegt. Ein Riesen-Problem ist natürlich, dass unseren Datenschützern keiner zuhört. Die Hinweise der Datenschützer werden ignoriert.

Die Aussage dürfte aktuell all diejenigen erstaunen, die bedauern, dass die Corona-App auf Grund der Einwände von Datenschützern weniger leistet, als sie könnte. Ist man bei Unternehmen und Behörden kulanter?
Das ist total ambivalent. Bei der Corona-App ist man definitiv über das Ziel hinaus geschossen. Wir tun so, als wären wir die größten Datenschützer der Welt. Das Gegenteil ist der Fall. Nur ein Beispiel: Sie können sich vielleicht an den großen Aufschrei beim Thema Bodycams bei der Bundespolizei erinnern.

Sie meinen die Videokameras zur Dokumentation des Einsatzgeschehens?
Da hat die Bundespolizei Bodycams von Motorola angeschafft, im großen Stil, und diese Geräte speichern Aufnahmen in der Public Cloud von Amazon. Auf die die amerikanische Regierung tatsächlich auch über den Cloud Act Zugriff hat. Es gab einen Riesen-Aufschrei. Passiert ist nichts. Meines Wissens nach wird es weiter genutzt. Der Witz ist, die amerikanische Polizei nutzt die gleichen Geräte von Motorola, aber dort werden die Aufnahmen in einer extra abgesicherten Regierungs-Cloud von Amazon gespeichert.

Erwarten Sie, dass das von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier initiierte Netzwerk Gaia-X Abhilfe schafft?
Herr Altmaier stellt sich hin und predigt sein Gaia-X, aber trotzdem geht die Regierung hin und beschafft Microsoft-Anwendungen im großen Stil. Die Ausgaben für Microsoft-Cloud-Anwendungen steigen seit Jahren. Das ist doch total widersprüchlich.

von Henryk Hielscher, Matthias Hohensee, Michael Kroker, Cornelius Welp, Silke Wettach

Herrn Altmaier nimmt auch keiner Ernst?
Sein Projekt Gaia-X hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn Behörden auf Bundes- und Landesebene hingehen und Microsoft-Cloud-Anwendungen kaufen. Und das, obwohl in der „Strategischen Marktanalyse zur Reduzierung von Abhängigkeiten von Software-Anbietern“ des CIO des Bundes aus 2019 genau dieses bereits als Problem identifiziert wurde.

Ist das ein deutsches Phänomen?
Mitnichten. Noch ein Beispiel: Wir sprechen seit langem mit der Europäischen Kommission über das Thema sichere beziehungsweise digital souveräne Dateiablage. Das Projekt sah schon einmal so aus, als würde es in die Beschaffungsphase gehen. Zwischenzeitlich wurde aber Office365 eingeführt, und plötzlich ist aus unserem Projekt, vorsichtig formuliert, der Drive raus. Auch das ist völlig absurd. Die Europäische Kommission legt ihre Dateien in einer Public Microsoft-Cloud ab, worauf die amerikanische Regierung über den Cloud Act jederzeit Zugriff hat. Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben: unser Angebot steht.

Ist denn Gaia-X aus Ihrer Sicht mehr als ein Schaufenster-Projekt?
Bis jetzt nicht. Es wird interessant werden zu sehen, ob mehr daraus wird. Ich glaube persönlich, es wird nur mehr daraus werden, wenn die Datenschützer endlich Ernst genommen werden. Das wird wahrscheinlich erst passieren, wenn tatsächlich mal signifikante Strafen ausgesprochen werden.

Was bräuchte es denn an konkreten Schritten, wenn man nicht auf Strafen warten will?
Zumindest die öffentliche Verwaltung muss jetzt mit gutem Beispiel voran gehen und wirklich anfangen, digital souveräne Alternativen in Betracht zu ziehen. Sie muss sich den Markt überhaupt anschauen und nicht sagen: Wir haben seit zehn Jahren Microsoft bestellt und bestellen jetzt wieder Microsoft. Man muss endlich anfangen, Hersteller-neutrale Lösungen auszuschreiben.

Das ist nicht der Fall?
Die schreiben einfach Microsoft-Lizenzen aus. Wie soll denn da ein anderer Hersteller zum Zug kommen?

Kopiert man die Anforderungen aus der bestehenden Lizenz, weil man es gar nicht besser weiß? Weil in den Behörden womöglich keine oder zu wenig Experten sitzen?
Teilweise mit Sicherheit. Und es macht natürlich mehr Mühe, den Markt zu sondieren und zu schauen, was gibt es denn noch? In Unternehmen sieht es auch nicht viel besser aus. Die schielen auf die Behörden und sagen, wenn das Auswärtige Amt Microsoft nutzt, dann kann ich das doch auch. Das Thema Datenschutz muss in die Lastenhefte rein. Es reicht nicht, wenn der Hersteller behauptet, es sei alles in Ordnung. Qua Gesetz müsste eine Datenschutzfolgeabschätzung gemacht werden. Wenn das konsequent gemacht würde, dürfte keine Behörde Microsoft Office 365 oder Microsoft Teams verwenden. Jedenfalls nicht in der Kombination mit OneDrive.

Gibt es denn den einen europäischen Anbieter, der das genauso gut kann?
Das ist natürlich heut zu Tage noch ein Problem. Es gibt keinen Anbieter, der diesen kompletten Anwendungs-Stack aus einer Hand liefern kann. Es gibt in vielen Bereichen mittlerweile wie zum Beispiel der Dateiablage gute und souveräne Alternativen. Aber es gibt eben nicht diesen kompletten Stack. Das macht es natürlich für den Kunden etwas komplizierter. Er muss gucken, woher er die einzelnen Lösungen bekommt.

Ist das nicht der Kern des Problems?. Wir suchen uns alle gerne den bequemeren Weg.
Das ist tatsächlich das Problem. Aber man könnte ja zumindest da anfangen, wo es gute Alternativen gibt.

Wäre es denn sinnvoll, wenn verschiedene Unternehmen mit verschiedenen Profilen aus dem Netzwerk von Gaia-X fusionieren würden?
(Überlegt) Gute Frage. Ich glaube, das kann eine Folge sein, wenn Gaia-X erfolgreich wird, dass sich Anbieter dann zusammentun.

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Müsste es nicht umgekehrt sein? Wenn Gaia-X erfolgreich sein will, müssten Unternehmen dann nicht fusionieren?
Nicht unbedingt. Wir integrieren ja für Kunden auch Anwendungen von anderen Herstellern, auch Office-Anwendungen, in ownCloud. Auch bei uns kriegen sie dann alles aus einer Hand. Wir verkaufen die anderen Lösungen dann mit. Sie kriegen dann auch den Support aus einer Hand. Das macht für den Kunden keinen Unterschied. Wir sind nur noch nicht ganz so bekannt.

Mehr zum Thema: Deutschland soll sich mit der Cloud-Initiative Gaia-X unabhängig von US-Technologieriesen machen – wünscht sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Doch neben Unternehmen unterläuft ausgerechnet der Staat das Ziel.

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