Gasknappheit Heizung runter, Arbeitsplätze retten

Angesichts der Gaskrise ist eine Debatte entbrannt, ob niedrigere Raumtemperaturen vertretbar sind. Quelle: imago images

Die Gasknappheit wird zur realen Gefahr. Und noch sagt das Gesetz: Die Verbraucher werden als letztes belangt. Das passt nicht mehr in die Zeit eines Wirtschaftskriegs. Ein Kommentar.

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20 bis 22 Grad. Wenn wir solche Temperaturen irgendwann im März oder April zum ersten Mal in der Wettervorhersage hören, dann brechen die Frühlingsgefühle aus. Pullover werden höchstens noch über die Schultern gehängt, die Stadtparks sind plötzlich vom Geruch der Holzkohlegrills erfüllt. Wer kann, der hält sich draußen auf. Es ist warm – so warm, wie es laut Gesetz auch in unseren Wohnungen sein soll, und zwar das ganze Jahr.

Wer das ein bisschen viel der staatlich verordneten Behaglichkeit findet, der musste sich bisher schnell mit Ex-SPD-Scharfmacher Thilo Sarrazin vergleichen lassen, der anno Tobak mal gefordert hat, Sozialleistungsempfängern im Zweifel die Heizung runterzudrehen. Doch die Zeiten ändern sich. Sarrazin ist weit nach Rechtsaußen abgedriftet und heute sind es der Verband der Wohnungswirtschaft, der Städte- und Gemeindebund oder der Chef der Bundesnetzagentur, die fordern oder zumindest mal in den Raum stellen, ob nicht vielleicht auch 18 oder 19 Grad Raumtemperatur genügen, falls Russland tatsächlich den Gashahn abdrehen sollte.

Sie haben völlig recht. Nicht nur, weil bei diesen Temperaturen niemand zu erfrieren droht. Sondern vor allem, weil wir endlich verstehen müssen, dass sich die Zeiten geändert haben. Sollte es tatsächlich zu einer solchen Abschaltung kommen, wäre das die finale Eskalationsstufe eines Wirtschaftskriegs, der heute schon zwischen Russland und dem Westen herrscht. Und in dem gelten andere Gesetze. Dann geht es eben nicht mehr allein um Gerechtigkeitsabwägungen zwischen Privatleuten und der Industrie – die immer dafürsprechen werden, die Verbraucher als letztes einzuschränken. Sondern vor allem um die Frage der nationalen Widerstandsfähigkeit: Wie verteilt das Land seine dann noch verbleibende Energie so, dass es sich Russlands Attacken bestmöglich widersetzen kann?

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Um diese Widerstandsfähigkeit zu optimieren, muss sich der Staat um zwei Dinge sorgen: die gesellschaftliche Stimmung im Lande, quasi die kollektive Wirtschaftskampf-Moral. Und die wirtschaftliche Prosperität an sich: Je weniger Betriebe durch einen solchen Lieferstopp in die Knie gehen, je weniger Arbeitsplätze und Steuereinnahme verloren gehen, umso besser. Es ist offensichtlich, wie eng verknüpft diese beiden Aspekte miteinander sind. Wer seinen Arbeitsplatz verliert, der wird sich über die warme Wohnung nicht lange freuen können. Und wenn die Gemeinde plötzlich Schwimmbäder schließt und den Müll nur noch alle paar Wochen einsammelt, dann macht das Kuscheln vor der Gasheizung gleich nur noch halb so viel Spaß.

von Konrad Fischer, Florian Güßgen, Andreas Menn, Jürgen Salz

Entsprechend bereitwillig dürften weite Teile der Bevölkerung es mittragen, wenn im absoluten Ernstfall – und nur um den geht es hier – die großen Wohnungskonzerne die Heizungen ein wenig herunterdrehen. Natürlich ist das unfair, wenn all die Eigenheimbesitzer zugleich weiterheizen können, wie sie wollen. Doch das ist eben der bittere Pragmatismus, der in solch kriegerischen Zeiten gelten muss: Das kollektive Wohl steht dann ein Stück weiter über individuellen Freiheiten als sonst.

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