GDL-Chef Claus Weselsky: „Das System Eisenbahn funktioniert nicht mehr“

GDL-Chef Claus Weselsky im Interview zur Deutschen Bahn Quelle: imago images

Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft GDL, über den Personalmangel bei der Bahn, die neue „Schalt-mal-ab“-Regel für Lokführer – und die Folgen für die Kunden.

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WirtschaftsWoche: Herr Weselsky, macht Lokfahren Spaß?
Claus Weselsky: Im Prinzip ja. Im bin 1977 auf die Lok gegangen und habe das sehr genossen. Wenn man da vorne sitzt und durch schöne Landschaften gleitet, ist das einfach wunderbar. Auch in den 80er Jahren war die innere Zufriedenheit der meisten Lokführer noch hoch. Doch die Zeit ist vorbei. Heute ist Lokführer kein Traumberuf mehr. Die meisten Lokführer von heute sagen ihren Kindern: Lernt lieber was anderes.

Warum hat die Attraktivität des Berufs gelitten?
Aus vielen Gründen. Dazu zählt die extreme Arbeitsverdichtung und die immer schlechtere Planbarkeit von Freizeit und Privatleben. Lange Zeit war auch die Bezahlung schlecht. Nach der Wiedervereinigung und der Entscheidung zur Privatisierung 1994 hat bei der Bahn ein massiver Rationalisierungsprozess eingesetzt.

Was betriebswirtschaftlich nicht falsch sein muss.
Im Prinzip nicht. Aber man darf ein Unternehmen nicht kaputtsparen. Es darf auch kein zahlenmäßiges Missverhältnis zwischen Häuptlingen und Indianern geben. Das System Eisenbahn funktioniert nicht mehr, weil es über Jahrzehnte in die falsche Richtung gefahren ist.

Wie viele Lokführer fehlen aktuell aus Ihrer Sicht?
Mittlerweile rund 1500 im gesamten Schienenverkehr. Die Bahn hat zwar rund 1200 Leute eingestellt, die sie zum Lokführer ausbilden will, aber sie hat nicht genügend Ausbildungskapazitäten. Das heißt, es dürfte einige Zeit dauern, bis die neuen Kollegen alle im Führerstand sitzen. Die Lage wird sich auch deshalb weiter verschärfen, weil von den 28.000 am Markt befindlichen Lokführern rund 50 Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre in Rente gehen.

Auch die GDL trägt ihren Teil zur Personalknappheit bei. Der jüngst abgeschlossene Tarifvertrag  sieht vor, dass Lokführer ab 2021 statt einer Tariferhöhung von 2,6 Prozent  auch sechs Tage Zusatzurlaub oder eine verkürzte Wochenarbeitszeit wählen können. Wenn das viele Mitarbeiter nutzen, führt das zu noch mehr Personalproblemen.
Nicht unbedingt. Die Bahn hat ja nun zwei Jahre Zeit, um gegenzusteuern. Das muss reichen, um personell zu reagieren. Im Übrigen sind gerade junge Kollegen heiß darauf, möglichst viele Strecken zu fahren, die werden eher das Geld nehmen.

Der neue Tarifvertrag enthält auch eine so genannte „Schalt-mal-ab-Regel“. Wie soll die in der Praxis funktionieren?
Wenn wir die Attraktivität des Lokführerberufs erhöhen wollen, geht das nicht nur übers Geld, sondern auch über weiche Faktoren – und ein wesentlicher Punkt dabei ist die klare Trennung zwischen Berufs- und Privatleben. Der neue Tarifvertrag schafft für die Mitarbeiter ein prinzipielles Recht auf Nichterreichbarkeit. Die Kollegen müssen nicht mehr hinnehmen, zu Hause angerufen zu werden. Wir sitzen jetzt am längeren Hebel. Die Arbeitnehmer sind keine Bittsteller mehr. Das muss die Arbeitgeberseite einsehen.

Wenn der Chef anruft und sagt:  Da ist ein Kollege ausgefallen, der ICE steht auf Gleis 7, kannst du einspringen: Soll der Mitarbeiter dann auflegen?
Nein, er soll gar nicht erst abnehmen.

Und der Bahnkunde zahlt die Zeche.
Schuld an den strukturellen Problemen der Bahn sind nicht die Mitarbeiter, sondern die Erbsenzähler, die bei der Bahn seit Jahren die Geschäfte führen.

Dann fällt der Zug notfalls aus?
Ja, dann fällt der Zug eben aus.  

Wie soll das Bahnmanagement denn reagieren, wenn Lokführer kurzfristig nicht zum Dienst erscheinen?
Gegenfrage: Wieso soll das Betriebsrisiko des Unternehmens auf den Lokführer übertragen werden? Derzeit nimmt ein Disponent das Telefon in die Hand und fängt an, herumzutelefonieren. In Zukunft muss es wieder eine so genannte Sitzbereitschaft geben. Die wurde vor Jahren im Rahmen des Sparkurses bei der Bahn abgeschafft. Das sind Kollegen, die ganz normal zum Dienst kommen und flexibel dort eingesetzt werden, wo Lokführer ausfallen.

Löst sich das Problem vielleicht in Zukunft  von ganz allein – weil die Züge vollautomatisch und ganz ohne Lokführer fahren?
Da bin ich tiefenentspannt. Eine Infrastruktur für den flächendeckenden Einsatz führerloser Züge wird es nicht vor dem Jahr 2035 geben. Und selbst dann wird immer noch technisches Personal an Bord sein müssen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass die Bahn störungsfrei und unbeeinflusst von äußeren Einflüssen durch dieses Land fährt. Ich lehne führerlose Züge im Übrigen nicht generell ab. Im Skytrain am Frankfurter Flughafen, der von Terminal 1 zu Terminal 2 und zurück fährt, macht ein Lokführer keinen Sinn, der würde ja komplett verblöden. Monotone kurze Fahrten darf gern schon jetzt die Technik übernehmen.

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