Schlangen an den Flughäfen, zur besten Ausgehzeit geschlossene Restaurants, der Handwerkertermin erst in zehn Wochen: Selten hat sich der Mangel an Arbeitskräften so spürbar für so viele Menschen gezeigt. In den kommenden Jahren wird das Problem sich noch verschlimmern: Das Statistische Bundesamt erwartet 2035 nur noch knapp 48 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter – das sind mehr als 3,6 Millionen Personen weniger als 2020.
Da verwundert es kaum, dass in den vergangenen Wochen ein Vorschlag wiederholt wurde, wie dem Fachkräfte- und Arbeitermangel zu begegnen sei: „Wollen wir Menschen nicht lieber wieder mehr verdienen lassen, indem wir etwas länger arbeiten?“, fragte der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und nahm damit eine Anregung des Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm auf. Der hatte schon im Juni „große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit“ geäußert – „natürlich bei vollem Lohnausgleich“.
Wenn die Babyboomer in Rente gehen, ginge Deutschland massiv Arbeitskraft verloren, hatte Russwurm seinen Vorstoß begründet. Und hielt eine 42-Stunden-Woche für leichter umsetzbar „als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70“.
Damit mag der BDI-Präsident recht haben. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland lehnt eine 42-Stunden-Woche allerdings ab, zeigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt. Fast drei Viertel der Befragten sind der Meinung, dass in Deutschland keine Arbeitswoche im Umfang von 42 Stunden eingeführt werden sollte, um den Fachkräftemangel auszugleichen.
57 Prozent der Menschen beantworteten die Frage mit „Nein, auf keinen Fall“, weitere 15 Prozent sind eher dagegen. Gerade einmal ein gutes Fünftel der Umfrageteilnehmer (genau: 22 Prozent) äußerte auf jeden Fall oder eher Zustimmung zu dem Vorschlag. Sechs Prozent der Menschen zeigte sich unentschieden.
„Stress und hohe Arbeitsdichte“
Die Gewerkschaften verwundert dieses Ergebnis naturgemäß nicht. Eine höhere Wochenarbeitszeit sei keine Lösung, sagt Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft IG Metall: „Die Gesundheit der Beschäftigten leidet schon heute unter Stress und hoher Arbeitsdichte.“
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Homeoffice lasse den Arbeits- und Zeitdruck auf Beschäftigte weiter steigen und erschwere es, vom Job abzuschalten, ergänzt der Tarifvorstand der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IGBCE), Ralf Sikorski. „Der heutige Fachkräftemangel ist vor allem die Folge einer seit Jahren verfehlten Personalpolitik“, kritisiert er. Ähnlich sieht es Harald Schaum, Vize-Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU). Um ausreichend Fachkräfte zu akquirieren, gebe es probate Mittel: „gute Arbeitsbedingungen und guter Lohn“.
Der deutsche Arbeitsmarkt im Juni 2022
Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist wegen der Erfassung ukrainischer Flüchtlinge erstmals seit Monaten wieder gestiegen. Im Juni waren 2,363 Millionen Menschen ohne Job. Das sind 103.000 mehr als im Mai, aber immer noch 251.000 weniger als vor einem Jahr, wie die Bundesagentur für Arbeit am 30. Juni 2022 mitteilte.
Die Arbeitslosenquote stieg um 0,3 Punkte auf 5,2 Prozent.
Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist weiter steigend. Mit 45,50 Millionen Personen fiel sie im Vergleich zum Vorjahr um 772.000 höher aus, teilte die Bundesagentur unter Berufung auf Daten des Statistischen Bundesamtes mit.
Die Kurzarbeit ist trotz der Folgen des Ukraine-Krieges weiter rückläufig. Im April wurde für 401.000 Menschen Kurzarbeitergeld gezahlt. Neuere Zahlen liegen nicht vor.
Zwischen 1. und 26. Juni seien Anzeigen für weitere 35.000 Personen eingegangen. Ob für diese tatsächlich Kurzarbeit in Anspruch genommen wird, ist noch offen.
Erst im Frühjahr hatten die Arbeitgeber der Baubranche den Branchenmindestlohn gekippt – nach 25 Jahren. „Da muss man sich nicht wundern, wenn die potenziell Beschäftigten sich attraktiveren Branchen zuwenden“, sagt Schaum. Gerade am Bau und in der Gebäudereinigung müssten Beschäftigte hart arbeiten. Eine noch höhere Belastung sei undenkbar.
Auch die Arbeitgeber scheinen die Idee einer 42-Stunden-Arbeitswoche derzeit indes nicht weiter erklären zu wollen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und der BDI, dessen Präsident die Diskussion immerhin mit aufgebracht hatte, verweisen an die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Dort verwendet man eine Verlautbarung von Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter wieder, in der dieser eindeutig uneindeutig von der 42-Stunden-Woche spricht.
Dem derzeitigen Arbeitskräftemangel könne nicht mit den Instrumenten von gestern begegnet werden, sagt Kampeter. Man brauche neue Antworten bei Zuwanderung, Lebensarbeitszeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und „sicherlich auch beim Arbeitszeitvolumen“. Im Übrigen sei die Arbeitszeitgestaltung Aufgabe der Tarifvertragsparteien: „Schon heute sind Wochenarbeitszeiten von sogar mehr als 42 Stunden tariflich möglich.“
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