Genossenschaften Große Begeisterung für die Kiez-Kapitalisten

Sie haben der Finanzkrise getrotzt und erleben nun eine Renaissance. Konservative Dörfler, alternative Städter und Erzeuger alternativer Energien finden sich zu Kooperativen zusammen – sie bestimmen in ihren Unternehmen mit, investieren lokal und langfristig.

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Aino Simon, Berliner Genossenschaft Möckernkiez

Die Bäume werden fallen. Den Naturschützer mit dem zauseligen Haar schmerzt das sichtlich. Versprechen doch die Genossen vom geplanten Möckernkiez, alles besser zu machen als andere Investoren. Auch die mürrische Frau vom Haus gegenüber wird ihre Aussicht auf die wilde Brache mitten in Kreuzberg verlieren. Immerhin soll Grün über die geplante neue Fassade wuchern und Straßenlärm schlucken. Und der ältere Herr von nebenan erwartet große Parkplatznot, wenn ein Quartier mit 400 Wohnungen und 1000 Bewohnern, aber nur 104 Tiefgaragenplätzen entsteht. Die künftigen Nachbarn wehren ab, die meisten hätten unterschrieben, fortan aufs Auto zu verzichten.

Die Genossenschaft Möckernkiez

Wer in Berlin-Kreuzberg baut, macht sich nicht nur Freunde. Die Genossenschaft Möckernkiez hat ins Rathaus geladen. Ihre 1070 Mitglieder wollen ein Viertel aus ökologischen und barrierefreien Passivhäusern errichten – mit Hotel und Gastronomie, Kita und Biomarkt. Die Neulinge wollen gute Nachbarn und bessere Kapitalisten sein. „Würde hier ein Investor bauen, wäre alles viel teurer“, wirbt Aino Simon, die mit 33 Jahren als eins von drei Vorstandsmitgliedern das Projekt steuert.

Sie kam zu ihrem Job als Leiterin einer Großbaustelle, weil sie samt Mann und Töchterchen bezahlbar und ökologisch wohnen wollte. Im Möckernkiez soll die Miete bei zehn Euro warm pro Quadratmeter liegen – unschlagbar für einen Neubau fußläufig zum Potsdamer Platz.

Die Kiez-Kapitalisten vertreten eine Bewegung, die konservative Dörfler wie alternative Städter eint. Ihre Genossenschaft haben sie 2009 gegründet. Vorher, bei einem Kreuzberger Straßenfest, fasste eine Handvoll von ihnen die leicht größenwahnsinnige Idee, das drei Hektar große frühere Bahngelände zu kaufen. Acht Millionen Euro hat die Genossenschaft vor zwei Jahren gezahlt und sich gegen kommerzielle Investoren durchgesetzt. Zu Beginn wurden die Bauwilligen belächelt, kurz vor Baustart werden sie anerkennend bestaunt. 2014 sollen die Bewohner einziehen. Gutes Leben – selbst gemacht.

Der Weg zur Gründung einer Genossenschaft

Dabei galten Genossenschaften lange als verstaubt und verschnarcht, klangen nach Raiffeisen, Futtermittel oder Eisenbahner-Bauverein. Sie alle basieren auf dem Prinzip der Selbsthilfe. Das funktionierte schon 1847, als Friedrich Wilhelm Raiffeisen in Weyerbusch im Westerwald den ersten Hilfsverein für die notleidende ländliche Bevölkerung ins Leben rief. Er gründete 1864 den „Heddesdorfer Darlehnskassenverein“, ein Vorläufer heutiger Genossenschaftsbanken.

Zur selben Zeit kümmerte sich Hermann Schulze-Delitzsch im sächsischen Delitzsch um in Not geratene Handwerker. Er gründete 1849 die „Rohstoffassoziation“ für Tischler und Schuhmacher und 1850 den „Vorschussverein“, den Prototyp heutiger Volksbanken.

Solide und risikoscheu – so werben Genossenschaftsbanken bis heute. Eher ungerupft kamen sie durch Börsenturbulenzen und Finanzkrise. Sie vereinen den Großteil der Genossen in Deutschland. Immerhin sind fast 21 Millionen Menschen Mitglieder. Da fällt die Zahl derer, die Aktien oder Aktienfonds besitzen, mit etwa zehn Millionen Menschen bescheiden aus.

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