Genossenschaften Große Begeisterung für die Kiez-Kapitalisten

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Nicht groß, aber schlau

Heinz Sonntag und Dieter Merschjohann

In den Siebziger- und Achtzigerjahren bekamen Kooperativen den Ruf, ein Hort für Sozialromantiker und Weltverbesserer zu sein. Doch „Genossenschaften sind Netzwerke, die helfen, wenn eine Branche im Wandel und im Wachsen ist“, schlägt die Volkswirtin Theresia Theurl, die an der Universität Münster den neuen Elan dieser alten Idee erforscht, den Bogen bis heute.

Theurl erklärt das Erfolgsrezept so: „Bist du nicht groß oder besonders stark, musst du besonders schlau sein. Man kann sich Größe auch organisieren, ohne sich abhängig zu machen.“ Reich werden könne man durch solch ein Unternehmen zwar nicht. Allerdings seien die Kunden zugleich Eigentümer und bestimmten mit.

Das trifft den Zeitgeist. Zudem wurden 2006 die gesetzlichen Regeln vereinfacht. Die neuen Wir-Kapitalisten müssen sich nicht mehr Genossen nennen. Sie können einfach Mitglieder sein. Das baut Vorbe- » » halte ab. Drei Beteiligte reichen zur Gründung aus. Die Vorstände haben viel Macht, doch „hierarchisch durchregieren“, wie es Geschäftsführer Andreas Eisen vom Genossenschaftsverband Norddeutschland nennt, können sie schlecht. Vielmehr müssen sie „Ziele gut vermitteln können“. Immerhin hat jedes Mitglied eine Stimme in der Generalversammlung, die alle grundsätzlichen Entscheidungen trifft.

Das Prinzip erlebt eine Renaissance: Was Einzelne nicht erreichen, vermögen sie als Gruppe durchaus. „Small is beautiful“ ist wieder da. Als Reaktion auf Globalisierung und Finanzkrise suchen Investitionswillige Zuflucht in überschaubaren und persönlichen Strukturen. Genossenschaften sind das Vehikel dafür. Sie sind die ökonomische Antwort auf das, was Regierende neuerdings als „Politik des Gehörtwerdens“ anstreben.

Profitieren statt meckern

Das Mammutprojekt Energiewende hat zusätzlichen Schub gebracht. Wendewillige schließen sich zusammen als Wind- und Solar-Kapitalisten. „Solche Gründungen dominieren seit ein paar Jahren“, weiß Geschäftsführer Andreas Eisen vom Genossenschaftsverband, der Neulingen zur Seite steht (siehe Grafik).

Grafik: steigende Anzahl neu gegründeter Kooperativen in Deutschland

Für den politisch gewollten Umstieg auf erneuerbare Energien in Deutschland hat der Staat den Netzwerkern sichere wie rentable Perspektiven verschafft. Bürgermeister, Handwerker und Bauern schließen sich zusammen und investieren in Solardächer, Windmühlen und Biogasanlagen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz macht’s möglich. Das Kollektiv profitiert, Stromverbraucher zahlen dafür eine Umlage.

Genossenschaftsexpertin Theurl lobt den Bürgersinn. So zu kooperieren sei „etwas Urliberales und Marktwirtschaftliches“. Denn: „Die Leute nehmen etwas selbst in die Hand. Der Staat sollte da nicht hineinregieren.“

Bürgermeister Dieter Merschjohann aus dem westfälischen Lichtenau ist ein Beispiel dafür. Er nutzt das Bürger-Unternehmen auch dazu, lokalen Widerstand gegen riesige Windmühlen und müffelnde Biogasanlagen zu begegnen. Denn: Wer profitiert, meckert nicht.

Merschjohann ist Vorsitzender der Energiegenossenschaft Paderborner Land. In einer Gegend, wo sich bereits 101 Windräder drehen, machte der CDU-Mann 2009 Wahlkampf fürs Amt als Stadtoberhaupt. Er versprach, die Lichtenauer an den Erträgen der lokalen Stromerzeugung zu beteiligen. „Die Energiewende ist leichter zu bewerkstelligen, wenn jeder finanziellen Anteil hat oder gar mit eigenem Strom seinen Kühlschrank antreibt“, sagt der 56-Jährige.

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