Ein ketzerischer Gedanke, nur mal so zwischendurch: Was wäre, wenn die staatsmännische Stimmungskanone da oben am Rednerpult, neben dem Blumengesteck und der Digitaluhranzeige, im Bundestagswahlkampf für die SPD anträte? Wenn er Kanzlerkandidat würde anstelle des seltsam ermatteten Martin Schulz, der Reden vor Unternehmern wie am Montag in Berlin vom Blatt abliest?
Der Genosse aber, der an diesem Dienstagabend in München in der IHK-Akademie vor der versammelten höheren Regionalwirtschaft auftritt, redet frei und Klartext. Altkanzler Gerhard Schröder - der schon sieben Jahre lang jenes Amt ausübte, das Schulz will - zieht mit Gedanken zum „Europa-Tag“ einen Saal auf seine Seite, dessen 600 Nutzer überwiegend CSU wählen dürften.
Das liegt auch daran, dass der altgediente Sozialdemokrat allerlei Bildhaftes in seine politischen Bekenntnisse würzt - zum Beispiel, dass Deutschland zusammen mit Frankreich die Führung in Europa übernehmen müsste, und zwar „so wie Stachelschweine sich lieben“.
Wichtige Stationen von Gerhard Schröder
Gerhard Fritz Kurt Schröder kam am 7. April 1944 im damaligen Lippe zur Welt. Er studierte Jura in Göttingen und ist seit seinem Examen 1974 Volljurist. 1963 wurde Schröder Mitglied der SPD. Von 1978 bis 1980 war er Bundesvorsitzender der Jungsozialisten (Jusos). Ein Gerücht besagt, dass er in dieser Zeit einmal am Tor des Bonner Bundeskanzleramts mit dem Ruf gerüttelt haben soll: „Ich will da rein!“ Bei der Bundestagswahl 1980 erhielt Schröder erstmals ein Bundestagsmandat, 1998 zum Bundeskanzler. Während seiner zweiten Amtszeit stellte Schröder am 1. Juli 2005 die Vertrauensfrage und scheiterte. Seither ist er als Rechtsanwalt und Lobbyist tätig, sowie Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG.
Ende März 1999 musste sich Schröder, der damals erst wenige Monate im Amt war, eine der schwerwiegendsten Entscheidungen seiner Amtszeit vor dem Bundestag erklären: Die Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten am Kosovo-Krieg. Es war der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg. 14 deutsche Tornados wurden für die Luftaufklärung eingesetzt und bekämpften serbische Flugabwehrstellungen um Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zu unterbieten. Der Kosovo-Krieg galt als erste Bewährungsprobe für die frische rot-grüne Regierung unter Schröder. Vor allem in den Reihen der Grünen war der Kampfeinsatz stark umstritten.
Keine politische Entscheidung ist so eng mit dem Namen Gerhard Schröders verknüpft wie die Agenda 2010. In seiner zweiten Amtszeit setzte Schröder das in der Öffentlichkeit und weiten Teilen seiner Partei heftig umstrittene Reformprogramm durch. Dazu gehörte vor allem der unter dem Namen Hartz I bis Hartz IV bekannte Umbau der Sozialsysteme für Arbeitslose und Bedürftige. Um sich die Rückendeckung seiner eigenen Partei zu sichern und das Programm trotz Gegenstimmen auf den Weg zu bringen, drohte Schröder mehrfach mit Rücktritt. Am 14. März 2003 konnte Schröder die Agenda 2010 durchsetzen, die seither als wichtigstes und größtes Projekt seiner Kanzlerschaft gilt.
Im Jahr 2000 erzielten die Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen einen sogenannten Energiekonsens. Auf Grundlage des Konsens sollte die Kernkraft-Nutzung in Deutschland geordnet beendet werden. Bis 2020, so glaubte man damals, sollte das Ende der Atomkraftnutzung in Deutschland erreicht werden. Schröders Gesetz zum Ausstieg aus der Atomenergie trat am 27. April 2002 in Kraft.
Als einer der großen Erfolge Schröders gilt die Einführung der Homo-Ehe. Seit dem 1. August 2001 können in Deutschland gleichgeschlechtliche Paare ihre Partnerschaft behördlich anerkennen lassen. Das neue Lebenspartnerschaftsgesetz der rot-grünen Koalition unter Schröder regelte die Bereiche Güterstand, Nachzugsrecht und Erbrecht von Grund auf neu. Trotz zahlreicher Versuche der Bundesländer Bayern, Sachsen und Thüringen, das Gesetz durch eine Normenkontrollklage zu stoppen, wurde es vom Bundesverfassungsgericht als rechtmäßig bestätigt.
2003 geriet Gerhard Schröder für seine Außenpolitik in Kreuzfeuer. Für seine Ankündigung, es werde im Weltsicherheitsrat keine Zustimmung Deutschlands zu einem Irak-Krieg geben, erntete er außenpolitisch massiv Kritik. Schröder belastet mit der Entscheidung das deutsch-amerikanische Verhältnis. Innenpolitisch bekam er für seine Entscheidung jedoch Rückendeckung, auch von Seiten der Bevölkerung.
Seit seinem Ausstieg aus der Politik hat Schröder als Vorsitzender des Nord-Stream-Aktionärsausschusses eine führende Position in dem Konsortium inne, das eine Ostsee-Pipeline von Russland nach Deutschland baut. An dem Betreiberkonsortium hält Gazprom die Mehrheit der Anteile, gut 51 Prozent. Für die Übernahme der Position wurde Schröder heftig kritisiert.
Mit Geduld und Vorsicht, das ist hier mit den „Stachelschweinen“ gemeint, aber auch mit mehr Mut. Deutschland sollte die ausgestreckte Hand Frankreichs jetzt nicht abweisen, kommentiert Schröder den Wahlerfolg des leidenschaftlichen Europafreundes Emmanuel Macron.
Ja, es müsse mehr in Europa investiert werden, vor allem im südlichen Teil mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit, und die Koordination der Geldpolitik müsse in der Euro-Zone zudem endlich durch eine Koordination von Wirtschafts-, Finanz- und auch Sozialpolitik flankiert werden. Der Euro müsse künftig neben dem Dollar und dem Yuan die „dritte Weltwährung“ werden, fordert Schröder.
Auch sei die Außen- und Sicherheitspolitik stärker gemeinsam zu betreiben, und zwar ohne militärische Aufrüstung. Die von den Amerikanern eingeforderte Regel, wonach zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ins Militär gehen sollen, sei ja „nie beschlossen worden“. Und schließlich habe der Schutz der europäischen Außengrenzen Priorität. „Es gibt neue Chancen für ein reformiertes Frankreich, für Europa und erst recht für uns Deutsche“, schrödert es mit Pathos, es gebe jetzt „ein historisches Zeitfenster“.
Gut gelaunt, lachend, mit leichter Röte im Gesicht
Frankreich sei „unser Gegengewicht, das Deutschlands Stärke austariert“. Der einstige Regierungschef erwartet, dass Frankreich und Deutschland nach ihren Parlamentswahlen im Juni beziehungsweise im September gemeinsam europäische Reformvorschläge vorlegen, gerade vor dem Hintergrund des „America-First-Gebarens“.
Schröders Analyse: Eine stärkere Integration Europas, eine neue „europäische Souveränität“, sei nötig zwischen den Kraftzentren USA und China, selbst Deutschland, Großbritannien und Frankreich seien dagegen „Zwerge“. „Das Wohl Europas ist auch das Wohl Deutschlands“, ruft Schröder noch in den Saal. Immerhin gingen 40 Prozent der Exporte in die EU. Deutschland müsse in Europa zahlen, damit der Euro bleibt. „Wir sind der Nutznießer des Euro“, sagt der Politiker.
Das alles klingt irgendwie präsidial, tatsächlich fast kanzleresk. Gut gelaunt, lachend, mit leichter Röte im Gesicht, ein bisschen verwittert, präsentiert sich der Star des Abends. Wenn man so will, wirkt hier ein Zirkuspferd, das alle Tricks kennt und ins Laufen kommt, wenn der Aufmerksamkeitspegel bei den anderen nur hoch genug steigt.
So kommt die Weltpolitik für ein paar Minuten in die Münchner Orleansstraße, fünf Minuten vom Ostbahnhof entfernt.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989, nach dem Ende der Bipolarität zwischen den USA und der alten Sowjetunion, ist nach Schröders Auffassung die Sicherheitsarchitektur nicht angepasst worden. Europa müsse nun verhindern, dass sich Russland und die Türkei gen China orientieren. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wiederum sei unmöglich, wenn das Land die Todesstrafe einführe, aber Deutschland kooperiere ja auch mit den USA und China, die ebenfalls die Todesstrafe exekutieren.
Mit Russland schwebt dem bekennenden Freund des Staatspräsidenten Wladimir Putin mittelfristig ein Assoziierungsabkommen vor. Dass Putin jüngst Marine Le Pen empfing, sei ein schwerer Fehler gewesen. Dennoch dürfe man nicht auf mehr Konfrontation setzen, sondern auf Dialog.