Gesundheitspolitik Amputationen bei Diabetikern – ein vermeidbares Schicksal

Es ist die Horror-Diagnose für zehntausende Diabetiker jedes Jahr: Fuß oder Zehen müssen amputiert werden. Doch Experten kritisieren, viele Eingriffe seien unnötig. Der Fehler liegt ihrer Ansicht nach im System.

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Bei 50.000 Zuckerkranken jährlich werden Fuß oder Zehen amputiert. Quelle: dpa

Berlin Tausenden Diabetes-Patienten werden nach Ansicht der Deutschen Diabetische Gesellschaft Füße oder Zehen amputiert, obwohl der medizinische Nutzen des Eingriffs gering ist. „Bis zu 50.000 Mal im Jahr wird in Deutschland bei an Diabetes Erkrankten ein Fuß amputiert. Das sind 50.000 individuelle oft vermeidbare Leidensgeschichten“, sagte Ralf Lobmann, ärztlicher Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Geriatrie am Klinikum Stuttgart am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Berlin. Eine Studie der Allgemeinen Ortskrankenkassen hatte 2003 noch 13.400 Amputationen bei Diabetikern ermittelt.

„Alle 15 Minuten verliert ein Mensch eine Extremität. Diese Zahl ist auch im internationalen Vergleich zu hoch“, sagte Lobmann weiter. Für viele Patienten  bedeutet der Eingriff nicht einmal die erhoffte Heilung. 20 Prozent versterben bei oder nach der Operation.

Weitere 20 Prozent sterben in den ersten zwölf Monaten nach der OP. „Fast jeder Zweite überlebt den Eingriff keine fünf Jahre“, weiß Lobmann, der im Ehrenamt die Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß leitet. Sie war 1993 auch mit dem Ziel gegründet worden, die Erfüllung der St. Vincent Deklaration von 1989 zu erreichen.

Damals verabredeten sich Vertreter von Gesundheitsministerien und Patientenorganisationen der Europäischen Union in dem italienischen Städtchen St. Vincent, die Zahl der Amputationen zu  halbieren und auch andere Komplikationen wie die Erblindung einzudämmen.

Ganz erfolglos waren die danach folgenden Bemühungen nicht. So gibt es in Deutschland inzwischen schon länger Behandlungsprogramme für die Zuckerkrankheit, bei denen niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser zusammenarbeiten. Wer an Diabetes erkrankt,  hat heute auch in  Deutschland eine weitaus größere Chance, keinen diabetischen Fuß zu bekommen oder eine zuckerbedingte Erkrankung der Netzhaut des Auges zu vermeiden.  Doch zugleich ist es nicht gelungen, die Zahl der Neuerkrankungen einzudämmen. Aktuell gibt es sechs bis acht Millionen Diabetiker in Deutschland. Und die Zahlen steigen weiter. 


Fehlanreize im Gesundheitssystem

250.000 Diabetiker in Deutschland haben Probleme mit den Füßen. Diese entstehen, weil die Zuckerkrankheit unbehandelt oder falsch behandelt zu Schädigungen der Nerven und der Blutgefäße führt. Es kommt zu einer verzögerten Wundheilung, die das Entstehen von Druckgeschwüren an den Füßen begünstigt. Wegen der Nervenschädigung spürt der Patient oft gar nicht, welche Katastrophe sich da anbahnt.

Kommt er dann mit akuten Beschwerden ins Krankenhaus, erfolgt oft viel zu schnell der härteste mögliche Eingriff: Zehen oder Fuß werden amputiert. Landet der Patient in einem Allgemeinkrankenhaus, beträgt die Chance, dass er amputiert wird, zehn bis 20 Prozent.

Hat er das Glück in eine der inzwischen bundesweit 78 zertifizierten Kliniken eingewiesen zu werden, sind seine Chancen weit größer, dass die Ärzte auf eine Behandlung setzten. Bei 18.500 Patienten, die mit einem kranken Fuß zwischen 2005 und 2012 in eine zertifizierte Klinik eingewiesen wurden, war nur in 3,1 Prozent der Fälle eine so genannte „Major-Amputation“ notwendig. Dabei wird der Fuß oberhalb des Sprunggelenks abgeschnitten.

Dafür dass in der Allgemeinversorgung so schnell amputiert wird, macht Lobmann Fehlanreize im Gesundheitssystem verantwortlich. „Die beste Fallpauschale gibt es für die Amputation.“  Dagegen rechnet sich die meist langwierige konservative Behandlung  im Krankenhaus nicht.

Die Deutsche Diabetische Gesellschaft schlägt vor, diesem Fehlanreizen auf zweifache Weise zu begegnen: Zum einen sollte vor jeder Amputation zwingend die Meinung eines zweiten Arztes eingeholt werden. „Das sollte am Besten nicht der eher operationsfreudige Chefarzt der chirurgischen Abteilung der Nachbarklinik sein“, so Baptist Gallwitz, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft, „sondern  Diabetologen, die  die Chancen einer Behandlung ohne OP einschätzen können.“ Außerdem würde es helfen, wenn Krankenhäuser einen Bonus dafür erhalten, wenn es den Ärzten gelingt einen Fuß zu erhalten. 

Der Gesundheitsexperten der SPD –Bundestagsfraktion, Edgar Franke, wies darauf hin, dass ja Patienten bereits heute das Recht hätten, eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen. Dazu zwingen will der Politiker allerdings niemanden. „Der einzelne Betroffene muss das selbst entscheiden. Wenn er seinem behandelnden Arzt unbedingt vertraut, sollte ihn niemand zwingen“, meint Franke. Außerdem sieht der Gesundheitspolitiker gute Ansätze für eine bessere Behandlung  und Vorbeugung der Zuckerkrankheit in dem 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetz. Auch die speziellen Behandlungsprogramme für Diabetiker müssten weiter ausgebaut werden. 


Das beste Mittel gegen Diabetes: Prävention

Besser als die Deutschen haben  es Diabetes-Kranken in den Niederlanden: Dort ist gesetzlich geregelt, dass jeder Patient mit einer Wundheilungsstörung, die länger als fünf Wochen andauert, in eine Spezialklinik muss, die auf die konservative Behandlung solcher Leiden spezialisiert ist und so überflüssige Operationen vermeidet.

Am allerbesten freilich ist es, erst gar nicht zuckerkrank zu werden, so Annette Schürmann, Sprecherin des Deutschen Instituts für Diabetes-Forschung. „Nahrungsüberfluss und zu wenig Bewegung sind neben erblicher Veranlagung dafür verantwortlich, dass immer mehr Menschen übergewichtig werden. Übergewicht wiederum ist der Hauptrisikofaktor für Insulinresistenz und die so genannten Altersdiabetes.“

Inzwischen kommt Übergewicht immer häufiger schon bei Kindern vor. Studien an Mäusen haben gezeigt, dass durch Intervallfasten  oder durch längere Pausen zwischen den Mahlzeiten die Empfindlichkeit des  Körpers für Insulin verbessert werden kann und damit ein Alters- oder Typ-II-Diabetes verhindert werden kann. 

Neben dem Intervallfasten, bei dem einen Tag normal gegessen werden darf, am nächsten aber nur Flüssigkeiten erlaubt sind, empfiehlt  Schürmann zwei weitere Methoden, um den Körper gegen eine drohende Zuckerkrankheit zu mobilisieren: Bei der Fünf zu Zwei-Diät darf sogar fünf Tage in der Woche normal gegessen werden. An zwei weiteren Tagen – hier kommt etwa das Wochenende in Frage – sind nur 600 Kalorien erlaubt. Auch wer es schafft, jeden Tag nach 16 Uhr nichts mehr zu essen, verpasst seinem Körper damit eine Fitnesskur gegen Diabetes. Denn der teilweise Nahrungsentzug erhöht nicht nur die Empfindlichkeit des Körpers auf Insulin. Der Stoffwechsel wird insgesamt  flexibler. Vor allem geht die Menge an Fetten und Fettsäurezwischenprodukten in Leber und Muskel zurück. Und die würden die Entstehung von Diabetes besonders begünstigen.

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