Gesundheitsreport Arbeiten? Nur noch mit Schmerzmitteln

Viele Pflegekräfte bewältigen ihren Arbeitsalltag nur noch mit Medikamenten, zeigt der BKK Gesundheitsreport. Doch auch in anderen Berufen ist die Gefahr groß, krank zu werden.

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Viele Pflegekräfte bewältigen ihres Arbeitsalltag nur noch Dank hilfreicher Medikamente.

Berlin Menschen, die in der Pflege tätig sind, haben ein deutlich höheres Risiko psychisch krank zu werden. Fast jeder zweite erhielt im vergangenen Jahr mindestens einmal eine entsprechende Diagnose. Erzieher und Sozialarbeiter landen mit einer Erkrankungsquote von 35 Prozent auf dem zweiten Platz. Das belegt der BKK Gesundheitsreport 2016, der dem Handelsblatt exklusiv vorliegt.

Alle reden derzeit von der großen Pflegereform, die am 1. Januar in Kraft tritt. Sie bedeutet in der Tat eine kleine Revolution für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Die bisher geltenden drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Für die Frage, in welche der fünf Leistungsstufen jemand eingruppiert wird, sind in Zukunft nicht mehr allein rein körperliche Fähigkeiten maßgeblich – beispielweise, ob man sich noch selbstständig waschen und kämmen kann. Es geht auch um die so genannte Alltagskompetenz, also darum, ob man sein Leben geistig und körperlich noch selbstständig gestalten kann.

Optimistisch geschätzt werden deshalb ab 2017 knapp 500.000 Versicherte erstmals Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, die bisher keinen Anspruch hatten. Damit soll die Pflegeversicherung künftig einen präventiven Charakter erhalten. Vor allem die häusliche Pflege soll verbessert und erleichtert werden.

Es gibt mithin tolle Innovationen für die Pflegebedürftigen. An die gut eine Million Beschäftigte, die in den Heimen und den ambulanten Pflegeeinrichtungen die Arbeit machen müssen, wird bei der Reform weniger gedacht. Angesichts eines zunehmenden Fachkräftemangels in vielen Einrichtungen ist ihre Arbeitsbelastung hoch, die Bezahlung eher schlecht und die Karriereaussichten sind gering.

Das rächt sich längst. Immer mehr Pflegekräfte halten der Belastung nicht stand. Das Ergebnis: Burn-out, so der aktuelle Gesundheitsreport des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen (BKK). Danach haben 40,5 Prozent der in der Altenpflege Beschäftigten 2015 mindestens einmal bei einem niedergelassenen Arzt oder einem Psychotherapeuten die Diagnose einer psychischen Erkrankung gestellt bekommen. Im Durchschnitt aller Versicherten trifft dieses Schicksal nur rund jeden Vierten.

Auch Beschäftigte, die in Erziehung und Sozialarbeit tätig sind, haben ein höheres Risiko psychisch zu erkranken als der Durchschnittsarbeitnehmer. 36 Prozent von ihnen erhielten 2015 eine entsprechende Diagnose. Am gesündesten für das seelische Wohlbefinden sind offenbar Handwerk und Industrie, wo es eher um praktische Fertigkeiten als um soziale Kompetenz und den richtigen Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen geht. So liegt das Risiko psychisch zu erkranken nach den Daten des BKK-Verbands bei Mechatronikern nur bei 15 Prozent. In der Regel wird in diesen Wirtschaftsbereichen auch deutlich besser bezahlt als in den Sozialberufen. Auch das könnte eine Rolle spielen.

Für die Pflegeunternehmen selbst ist das alles andere als eine gute Entwicklung. Denn die Erkrankungen führen dazu, dass oft lange Fehlzeiten zusätzliche Lücken in die ohnehin schon löchrige Personaldecke reißen: Beschäftigte in der Altenpflege fehlten 2015 krankheitsbedingt 24,1 Tage, das ist über eine Kalenderwoche mehr als beim Durchschnitt der Beschäftigten. Fast jeder fünfte Fehltag (18,7 Prozent) geht dabei auf das Konto von psychischen Erkrankungen, mehr als jeder vierte AU-Tag (27,2) wird allerdings durch Muskel- und Skeletterkrankungen verursacht. Die Pflege von alten Menschen ist eben nicht nur seelisch belastend, sondern oft auch körperliche Knochenarbeit.


Viel zu hohe Arbeitsbelastung

Depressive Erkrankungen und Burn-out sind in der Altenpflege ungefähr doppelt so oft Ursache dafür, dass Arbeitnehmer zu Hause bleiben müssen, wie in der übrigen Wirtschaft. Viele Pflegekräfte bewältigen ihren Arbeitsalltag nur noch Dank hilfreicher Medikamente: Ein Fünftel hat 2015 mindestens einmal ein Mittel verordnet bekommen, dass auf das Nervensystem wirkt. Acht Prozent nahmen Antidepressiva, jeder zehnte ließ sich mindestens einmal Schmerzmittel verordnen. Es klingt auf den ersten Blick paradox: Aber ähnlich häufig kommen Antidepressiva nur bei Reinigungskräften zum Einsatz. Das könnte daran liegen, dass auch sie unter schlechter Bezahlung und sozialer Geringschätzung zu leiden haben.

Zumindest mit letzterer möchte die Politik in Zukunft aufräumen. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat zusammen mit der Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) eine Reform der Berufsausbildung zur Pflege auf den Weg gebracht. Altenpflege und die weit besser angesehene und auch besser bezahlte Kranken- und Kinderkrankenpflege sollen in Zukunft in ein Berufsbild mit einer gemeinsamen Ausbildung integriert werden. Davon versprechen sich die Befürworter eine Aufwertung der Altenpflege und auf die Dauer auch eine bessere Bezahlung.

Die Kritiker haben hingegen die Befürchtung, dass künftig jeder, der eben kann, versuchen wird, nach der Ausbildung einen Job im Krankenhaus zu kriegen. Der Personalmangel in der Altenpflege, so deren Befürchtung, würde dann noch größer werden.

Auch um das Problem der hohen Arbeitsbelastung in der Altenpflege kümmert sich die Politik inzwischen. So gibt es allgemeine Vorgaben für die Personalausstattung in Heimen, die aber auf Landesebene umgesetzt werden müssen. Und das führt zu einem Flickenteppich von Regelungen. Klar ist eigentlich nur, dass 50 Prozent der Beschäftigten in einem Heim Pflegefachkräfte sein müssen. Wie viele Pflegekräfte pro Patient eingesetzt werden müssen, wird dagegen derzeit noch recht willkürlich festgelegt. So reichen in Brandenburg 27 Vollzeitkräfte für den 24-Stunden-Dienst in einem Haus mit 80 Pflegebedürftigen im Durchschnitt. In Sachen sind fast 35 nötig, Allerdings werden diese Vorgaben oft nicht eingehalten.

Das soll sich ändern mit dem neuen Pflegestärkungsgesetz. Es sieht vor, dass in Zukunft der Personalbedarf für das gesamte Bundesgebiet einheitlich auf der Basis wissenschaftlich fundierter Verfahren ermittelt werden soll. Umgesetzt werden soll das Ganze aber erst bis Juli 2020, so dass entsprechende Regelungen erst 2021 greifen würde.

Das dauert Sozialverbänden und der Gewerkschaft Verdi viel zu lange. Die Gewerkschaft fordert daher Soforthilfe von der Bundesregierung. Sie fordert die Umwandlung des Pflegevorsorgefonds, in den die Versicherten seit 2015 jeden Monat 0,1 Prozent ihres beitragspflichtigen Einkommens einzahlen müssen, in einen Pflegepersonalfonds. Das bedeutet, die bislang dort angesparten etwas über eine Milliarde Euro sollen eingesetzt werden, um die Personalausstattung in der Pflege zu verbessern. 38.000 neue Pflegekräfte ließen sich so dauerhaft finanzieren, rechnet Verdi vor.

Die Idee dürfte aus zweierlei Gründen scheitern: Erstens sind aktuell 38.000 Pflegekräfte am Arbeitsmarkt gar nicht verfügbar. Wichtiger ist allerdings, dass der Verdi-Vorschlag politisch derzeit keine Chance hat. Sozialverbände und die Gewerkschaft fordern deshalb strengere Anforderungen für die Arbeitsbedingungen wie den für 2021 vorgesehenen gesetzlich vorgegebenen Personalschlüssel für Heime und Einrichtungen.

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