Gewerkschaften Die unheimliche Macht der IG Metall

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Radikale Strategiereform

Deutsche Bundesbank Präsident Jens Weidmann und Berthold Huber Quelle: REUTERS

Was die Arbeitgeber aktuell aber am meisten beunruhigen dürfte: Die Streikkasse der IG Metall ist so prall gefüllt wie nie zuvor. Wenig beachtet von der Öffentlichkeit, hat die IG Metall seit Jahren 15 Prozent ihrer Beitragseinnahmen für Arbeitskämpfe angespart. Allein im vergangenen Jahr waren das 69 Millionen Euro. Zwischen 2007 und 2011 gab die IG Metall nur etwa fünf Millionen Euro für Streikgelder aus – und stopfte mehr als 330 Millionen in die Rücklagen. „Am Geld wird 2012 ein Arbeitskampf mit Sicherheit nicht scheitern“, frohlockt Finanzvorstand Bertin Eichler.

Und an mangelndem Rückhalt in den Betrieben wohl auch nicht. Die Gewerkschaft hat unter Huber die Trendwende bei den Mitgliederzahlen geschafft. Während die beiden anderen großen DGB-Gewerkschaften Verdi und IG BCE 2011 weiter schrumpften, konnten die Metaller erstmals seit der deutschen Einheit zulegen. Die Beitragseinnahmen kletterten um 17 Millionen auf knapp 459 Millionen Euro – den höchsten Wert aller Zeiten.

Nachdem das Jahresergebnis nach Rückstellungen in den Vorjahren stets negativ war, gab es 2011 einen Überschuss von über zehn Millionen Euro. 2012 rechnet Finanzvorstand Eichler „mit einem weiteren Anstieg der Einnahmen auf rund 464 Millionen Euro“. Und das sei eine konservative Planung. Erste Zahlen aus den Bezirken zeigen, dass der positive Mitgliedertrend anhält; allein in Baden-Württemberg traten im ersten Quartal 6000 Kollegen ein. Das Schönste: Von jeder Lohnerhöhung, die sie den Arbeitgebern abtrotzt, profitiert die Gewerkschaft selbst. Denn ein Prozent des Bruttoeinkommens fließt als Mitgliedsbeitrag in ihre Kasse.

Mitgliederzahl der IG Metall Quelle: DGB

Der Aufschwung ist das Ergebnis einer radikalen Strategie- und Organisationsreform, die Huber seiner Truppe verordnet hat. Unter Vorgänger Jürgen Peters, dem Huber vier Jahre als Vize dienen musste, hatten sich Fundamentalisten und Pragmatiker in der Gewerkschaft bekriegt und die Gewerkschaft ins politische Abseits manövriert. Peters sah in der IG Metall eine radikale linke Gegenmacht, die eine Führungsrolle in jedwedem sozial- und gesellschaftspolitischen Diskurs des Landes einnehmen sollte. Am Ende der Ära Peters im Jahr 2007 hatte die Gewerkschaft 400.000 Mitglieder weniger als zu Zeiten der Wiedervereinigung.

Zurück zum Kerngeschäft

Heute spottet IG-Metall-Vize Detlef Wetzel: „Die Welt wird nicht verändert, indem wir als IG Metall in der Lage sind, einen guten Aufsatz zu schreiben.“ Nun lautet die von ihm und Huber vorgegebene Linie: Konzentration aufs Kerngeschäft. Alle Aktivitäten, einschließlich der Tarifrunden, dienen dem einen zentralen Ziel: neue Mitglieder zu gewinnen und damit zusätzliche Macht in den Betrieben. Nicht von ungefähr will die IG Metall in der laufenden Tarifrunde nicht nur 6,5 Prozent mehr Geld, sondern auch eine Übernahmepflicht für Auszubildende und Mitbestimmungsrechte beim Einsatz von Zeitarbeitern durchsetzen. „Das sind drei gleichwertige Forderungen – und im Zweifel werden wir einen Konflikt um alle drei Themen führen“, sagt Huber. Vor allem: Es sind beste Werbeargumente bei den Belegschaften.

Niemand sollte sich von Hubers bisweilen fahrigen Auftritten und seiner betont schläfrigen Sprechweise täuschen lassen: Der Mann denkt messerscharf und weiß genau, was er will. Auch im Umgang mit den eigenen Leuten folgt die Gewerkschaft inzwischen kühlem unternehmerischem Kalkül. In der Frankfurter Zentrale hat Huber (Jahresgehalt: rund 240.000 Euro) zuletzt rund 100 Stellen abgebaut, das sind rund 15 Prozent der dortigen Belegschaft. Das eingesparte Geld, fast 20 Millionen Euro pro Jahr, steckt er nun in einen Fonds, aus dem die Verwaltungsstellen vor Ort Projekte zur Mitgliedergewinnung finanzieren können. Lohnverhandlungen für die eigene Belegschaft, bundesweit rund 2300 Leute, führt die IG-Metall-Spitze mit dem Betriebsrat – wofür man jedes Unternehmen, das Ähnliches versucht, vors Arbeitsgericht zerren würde.

Wie die Basis tickt

Bitten lokale Betriebsräte bei Streitigkeiten mit der Firmenleitung um Unterstützung, hilft die IG Metall weiterhin gerne – aber nur noch, wenn vorher genügend Beschäftigte einen Mitgliedsantrag unterschrieben haben. „Gut organisierte Belegschaften haben gute Tarifverträge – und schlecht organisierte schlechte“, beschreibt Wetzel lapidar die Entwicklung.

Als etwa vor einigen Monaten ein Metallbetrieb in Lüdenscheid wegen wirtschaftlicher Probleme tarifliche Leistungen kürzen wollte und Betriebsräte bei IG-Metall-Lokalchef Bernd Schildknecht vorsprachen, zog der nur die Augenbrauen hoch; ganze 20 der 120 Mitarbeiter waren in dem Unternehmen organisiert. Acht Wochen später hatte sich die Zahl vervierfacht. Zwar mussten die Mitarbeiter trotzdem für eine Übergangszeit Lohneinbußen und längere Arbeitszeiten hinnehmen. Metaller Schildknecht handelte aber im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie für alle aus.

Wer wissen will, wie die neue IG Metall an der Basis tickt, sollte in die Düsseldorfer Roßstraße fahren und mit Oliver Burkhard reden. Der 40-Jährige, ein jugendlicher Typ mit Dreitagebart, sitzt im achten Stock der nordrhein-westfälischen IG-Metall-Zentrale und blättert in einem Aktenordner. Als Chef der IG Metall NRW, des mitgliederstärksten Bezirks seiner Gewerkschaft, ist der Huber-Vertraute einer der einflussreichsten IG-Metall-Funktionäre des Landes. Aber er ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was sich Lieschen Müller unter einem Metallgewerkschafter vorstellt. Klassenkampf? Völker, hört die Signale? Bei Burkhard, der Betriebswirtschaft studiert hat und früher beim Statistischen Bundesamt arbeitete, hört sich das anders an. Er redet lieber von „VS-Ratings“, „ABC-Analysen“ und „Organizingprojekten“; in seinen Ordnern hat er seitenlange Qualitätsanalysen und Leistungschecks abgeheftet.

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