Globalisierung Warum Deutschland sich nicht von der Welt abkoppeln sollte

Quelle: imago images

Deutsche Außenpolitik darf nicht dazu führen, dass der globale Trend zur Konfrontation noch verstärkt wird. Was aber sollte die Rolle der Bundesrepublik sein? Die engagierte Anwältin einer multipolaren Weltordnung. Ein Gastbeitrag.

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Seit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz vom 27. Februar 2022 vor dem Bundestag prägt der Begriff der Zeitenwende die außenpolitische Debatte in Deutschland. So zutreffend er ist, um die umwälzenden Veränderungen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu beschreiben, so wenig eignet er sich doch für die Charakterisierung des internationalen Umfelds, dem diese Veränderungen geschuldet sind. Zeitenwende impliziert, dass absehbar wäre, wohin sich die Zeit wendet. Dem ist keineswegs so. Zwar geht die Ära zu Ende, in der die Welt durch eine regelbasierte liberale Ordnung strukturiert war und die Hoffnung dominierte, das „Ende der Geschichte“ sei nahe und es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis alle Staaten der Welt rechtsstaatlich, demokratisch und marktwirtschaftlich wären. Doch noch ist unklar, was an die Stelle dieser weltgeschichtlichen Periode tritt.

Zwei Trends zeichnen sich seit Längerem ab, die die „neue Zeit“ prägen werden. Da ist erstens die sich verschärfende Konkurrenz zwischen Groß- und Regionalmächten um Einflusssphären, technologische Vorherrschaft, Kontrolle von Märkten, Handelswegen und strategischen Rohstoffen. Lange schien es so, als würde die Rivalität hauptsächlich durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen, Setzung von Normen und Standards sowie Manipulation der öffentlichen Meinung ausgetragen. Zwar projizierten Länder ihre Macht durchaus auch mithilfe militärischer Mittel, doch die massive Anwendung militärischer Gewalt durch Russland gegenüber der Ukraine bedeutet hier tatsächlich einen Epochenbruch.

Der zweite Trend ist mit dem ersten eng verwoben: der wachsende systemische Gegensatz zwischen Autokratien und Demokratien, Obrigkeitsstaat und Rechtsstaat, kollektiven Pflichten und individuellen Rechten, Staatskapitalismus und Marktwirtschaft. Bisher manifestierte sich dieser Trend vor allem in dem wachsenden Gegensatz zwischen China und den USA. Nicht wenige leiten aus diesen beiden Trends ab, die Welt steuere auf eine erneute Phase der Bipolarität, gar auf einen Kalten Krieg 2.0 zu.

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Dieser Eindruck drängt sich vor allem für Europa auf, wo kaum vorstellbar ist, wie eine neue konfrontative, bipolare Sicherheitsordnung zu verhindern ist, solange Russland an der gewaltsamen Eroberung und unrechtmäßigen Besetzung ukrainischen Staatsgebiets festhält. Für die übrige Welt ist ein solches Szenario nicht nur viel weniger wahrscheinlich. Es sollte vor allem aus deutscher Sicht auch mit allen Kräften vermieden werden. Eine erneute weltpolitische Konkurrenz zwischen zwei Blöcken würde nicht nur die Bewältigung drängender globaler Herausforderungen – Klimawandel, Pandemien, Nahrungsmittelsicherheit und Entwicklung – ungemein erschweren, sondern auch erhebliche Wohlfahrtsverluste für Deutschland bedeuten, dessen Leistungskraft in hohem Maße von weltweiter wirtschaftlicher Verflechtung – in anderen Worten: Globalisierung – abhängt.

Schließlich würde sich ein großer Teil der Welt der Bipolarität entziehen wollen. Zwischen den idealtypischen Polen Autokratie und Demokratie gibt es eine große Bandbreite politischer Systeme, von denen sich nur wenige eine Wahl zwischen einem von den USA und Europa beziehungsweise China und Russland geführten Block aufzwingen lassen würden. Die Abstimmungen in den Vereinten Nationen anlässlich der russischen Invasion in die Ukraine haben dies erneut verdeutlicht.

Für eine neue Globalisierung

Aufgabe deutscher Außenpolitik ist es deswegen nicht, durch eigene Beiträge den Trend zur weltweiten Bipolarität zu verstärken, sondern sich am Leitbild einer multipolaren oder – wie sich aus der Rede des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil vom 21. Juni 2022 ableiten lässt – einer polyzentrischen Weltordnung zu orientieren. Eine Weltordnung, in der die EU über die strategische Handlungsfähigkeit eines Zentrums verfügt, sie die politische Nähe oder Distanz zu anderen Zentren selbst bestimmt, akzeptiert, dass sich andere Systeme nur schwerlich von außen ändern lassen und deshalb die nötigen Schnittstellen für die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Austauschbeziehungen zu diesen Systemen gestaltet. Es gilt also gegenüber jedem der anderen Zentren die richtige Mischung aus Partnerschaft, Wettbewerb und Konfrontation zu bestimmen und nicht auf eine völlige Entflechtung der Beziehungen zwischen systemischen Wettbewerbern hinzuarbeiten.

Das Werben um andere Länder, der Aufbau neuer und die Stärkung bestehender strategischer Partnerschaften, die politikfeldbezogene Bildung von Klubs von Gleichgesinnten, aber auch das Schließen von Freihandelsabkommen sind zentrale Elemente, um sich in der neuen, dynamischen und unübersichtlichen Weltordnung als attraktives Zentrum zu positionieren. Das Ergebnis dieser Bemühungen wäre dann nicht das Ende der Globalisierung, so wie sie eine Blockkonfrontation unvermeidlich zur Folge hätte. Vielmehr würden sie eine neue, gemäßigte Phase der Globalisierung einleiten, in der statt Effizienz, Spezialisierung und Skalengrößen die Resilienz und Regionalisierung von Wertschöpfungsketten sowie Diversifizierung zentrale Rollen spielen würden.

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Partnerschaft und friedlicher Wettbewerb finden allerdings dort ihr Ende, wo, wie im Falle der russischen Invasion in die Ukraine, essenzielle völkerrechtliche Normen verletzt werden. Dann bleibt als Handlungsoption tatsächlich nur mehr die Konfrontation.

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