Globalisierung „Zivilisation und Wildnis“

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Ist Ihre Sicht der Welt nicht ein wenig simpel? Sie ziehen einfach zwei Grenzlinien im Norden und im Süden der Weltkugel und versenken so etwa den kapitalistischen Boom-Staat Singapur im Krisenloch, während das zurückgebliebene Weißrussland zum Globalisierungskern gehört. Das sind Problemfälle. Singapur ist eigentlich vorbildlich in die Globalisierung eingebunden, aber so etwas wie eine luxuriöse Stadtvilla inmitten von Slums. Dergleichen ist zumindest riskant. Die potenziellen Krisenherde befinden sich fast alle am Übergang zwischen Kern und Loch. Isolierte Loch-Staaten innerhalb der globalisierten Welt können jedoch relativ harmlos sein wie das schwache Weißrussland oder brandgefährlich wie Nordkorea. Und potenzielle Rivalen der USA wie China, Indien oder Russland machen Ihnen keine Sorgen? Natürlich müssen wir uns auch Sorgen um diese Länder machen. Aber völlig falsch ist es, wenn einzelne Leute im US-Militär und in Washington China für Amerikas Feind Nummer eins im 21. Jahrhundert halten. Ich bin für ein Bündnis mit China. Das Land hat sich klar für die Globalisierung entschieden und handelt entsprechend. Wir und die Chinesen haben weitgehend gleiche Interessen und damit auch die gleichen potenziellen Gegner. Ähnliches gilt für Russland und Indien. Und welche Rolle spielen die Europäer in Ihrem geopolitischen Kalkül? Ich halte es für möglich, dass wir in ein paar Jahrzehnten mit entschlossen globalisierten Staaten wie Russland oder Indien besser kooperieren können als mit einem Europa, das sich zum Teil noch immer vor der Globalisierung verbarrikadieren will. Schreiben Sie Europa ab? Nein, ich glaube eigentlich an eine positive Entwicklung in Europa, besonders in Deutschland. Sie haben bei der Eingliederung Ostdeutschlands gelernt, dass Sonderwege und scheinbar soziale Alternativen zum Weltmarkt nichts bringen: Die Investitionen aus aller Welt fließen nach Polen und Tschechien, nicht in den deutschen Osten. Wenn Sie daraus Konse-quenzen ziehen, stimmt mich das optimistisch. Kann man denn Optimist sein, wenn man die Weltlage aus der Sicht eines Militärs betrachtet? Aber ja doch, ich bin Optimist! Die globalisierten Länder sind für die meisten Menschen in der Peripherie außerordentlich attraktiv, und wenn wir ihnen helfen, werden sie versuchen, uns zu kopieren. Wie im 19. Jahrhundert in Nordamerika die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis immer weiter nach Westen rutschte und schließlich ganz verschwand, wird der globalisierte Kern im 21. Jahrhundert immer größer, wenn wir keine großen Fehler machen. Thomas Barnett, 43, war nach seiner Promotion als Politikwissenschaftler in Harvard Dozent am Naval War College der US-Marine in Newport. Barnett ist heute Senior Managing Director der Beratungsfirma Enterra Solutions.

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