Nach der Krise wird nichts mehr so sein, wie es war. Der Fall der Berliner Mauer, der Einsturz der New Yorker Zwillingstürme und die große Finanzkrise 2008 haben das Weltbild vieler Menschen verändert. Die Coronapandemie erweitert die Liste der epochalen Ereignisse um ein tragisches Element.
Bei wem die Krise besonders deutliche Spuren hinterlässt, zeigt der heute der von der Deutschen Post präsentierte „Glücksatlas 2020“. Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwissenschaften an der Universität Freiburg, leitet die Studie und erklärt: „Der Rückgang der Lebenszufriedenheit durch die Coronapandemie ist eine Zäsur.“ Auf einer Skala von 0 bis 10 liegt das Glücksniveau mit 6,74 Punkten weit unter dem Allzeithoch aus dem Vorjahr (7,14). Seit Beginn der Messungen 2011 lag die Lebenszufriedenheit bei mindestens sieben Punkten. Insgesamt schauen die Deutschen allerdings trotzdem einigermaßen optimistisch in die Zukunft. Ein großer Teil der Bevölkerung glaubt, 2021 wieder genauso glücklich zu sein wie vor der Pandemie.
Jedes Jahr beschäftigen sich Forscher mit der Frage, was Menschen in Deutschland bewegt und wie zufrieden sie mit ihrer Lebenssituation sind. Die Forscher untersuchen die Kausalität zwischen Lebensumständen und Zufriedenheit anhand von vier Indikatoren, den vier „Gs“: Gesundheit, Gemeinschaft, Geld und genetische Disposition. Nur wenn alle vier Faktoren zusammenkommen, sei der Mensch zufrieden, erklärt Raffelhüschen. Umgekehrt ausgedrückt: Wer zwar reich ist, aber keine Freunde hat, wird nicht glücklich. Die genetische Disposition umfasst sämtliche Faktoren, die die anderen Kategorien nicht abbilden – Zufall, persönliche Mentalität, Risikobereitschaft, Angst.
Spitzenreiter Schleswig-Holstein
Der Norden bleibt unverändert die glücklichste Region Deutschlands. Seit 2013 ist Schleswig-Holstein Spitzenreiter, dicht gefolgt von Hamburg. Da die Erhebungsweise in diesem Jahr von der in den vorigen Jahren abweicht, der Datenumfang verändert und die Regionen neu zugeteilt wurden, sind die Daten mit früheren Werten nur bedingt vergleichbar. Es zeichnen sich jedoch Trends ab.
„Sobald Sie in Richtung Nordsee kommen, sind die Menschen zufriedener – egal ob innerhalb Deutschlands oder in Europa. Nordseeluft scheint mit Zufriedenheit zu korrelieren,“ erklärt Raffelhüschen, der selbst in Nordfriesland geboren ist und in Dänemark studiert hat. Dort leben im europaweiten Vergleich die zufriedensten Menschen. Für Raffelhüschen ist das kein Zufall. Es sei die Mentalität der Menschen im Norden, die sich auch auf den Sprachgebrauch niedergeschlagen habe. Gemütlichkeit – Hygge – sei auf Dänisch Teil der Grußformel, berichtet er.
Auf Platz zwei und drei der Glücks-Skala stehen Hamburg und Baden-Württemberg gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Bayern. In diesem Jahr schafft es erstmals ein ostdeutsches Bundesland vor eine westdeutsche Region. Sachsen-Anhalt liegt auf Rang sechs und überholt damit Niedersachen, Hessen und Rheinland-Pfalz. 2019 lebten in Hessen immerhin die zweitglücklichsten Menschen in Deutschland, in den Jahren zuvor waren sie in den oberen Positionen mit dabei. In Rheinland-Pfalz waren die Menschen auch in den vergangenen Jahren eher unzufrieden.
Gleichzeitig hat sich der Glücks-Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland nahezu aufgelöst. Mit 0,05 ist er so niedrig wie noch nie. 2019 lag er noch bei 0,17 Punkten, in den Jahren zuvor bei über 0,2. Die Wissenschaftler vermuten, dass die niedrigen Infektionszahlen in Ostdeutschland eine Ursache für die verhältnismäßig hohe Zufriedenheit sind. Im Juli waren die Infektionszahlen pro 100.000 Einwohnern in Ostdeutschland nicht einmal halb so hoch wie im Westen. Auch die Zahl der Arbeitslosen und Angestellten in Kurzarbeit ist im Westen deutlich stärker gestiegen.
Die Ursachen für den Rückgang der allgemeinen Lebenszufriedenheit sind vielfältig. „Wir befinden uns in einer weltweiten Rezession und die ist drastisch. Die eigentlichen Probleme von Corona sind aber die Folgen für die Menschen: Lockdown, Kurzarbeit, die Angst vor dem Jobverlust,“ erklärt der Finanzwissenschaftler. Er ist der Überzeugung, dass Deutschland noch lange mit den wirtschaftlichen Folgen der Krise zu kämpfen habe. In der Lehman-Krise 2008 habe sich die Wirtschaft entsprechend einer „V-Kurve“ erholt. Nach dem großen Einbruch der Banken folgte ein schneller Aufschwung. „Mit den Folgen der Corona-Krise werden wir länger zu kämpfen haben. Das belastet die Menschen.“