Görlachs Gedanken

Die deutsche Leitkultur ist ein Mythos

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Der Mythos vom nationale Narrativ

Die Wahrheit ist, dass das Verstehen einer Nation mit von ihr behaupteten Eigenschaften und Qualitäten ("christlich"), nie über ein künstliches Stadium hinausgeht. Nicht nur Deutschland ist hier ein Beispiel, denn eine Leitkultur-Debatte haben in der einen oder anderen Weise auch manche unserer Nachbarn geführt und führen sie immer noch, meist mit ähnlich unbefriedigendem Ausgang. Der Grund dafür ist, dass die Nationen des Westens heute künstliche Gebilde sind, beschwert von der Last der Geschichte. Was ist beispielsweise das Königreich Spanien? Mit Sicherheit bekommt man in Barcelona und in San Sebastian darauf andere Antworten als in Madrid. Oder: warum sind Bayern und Thüringen Freistaaten, also adelige Bundesländer? Die Nation als Klammer von Identität hat ausgedient.

Diese wenigen Streiflichter zeigen, dass es vielmehr regionale Identitäten sind, die die Menschen leiten und nicht die uneingelösten Verheißungen nationaler, artifizieller Erzählungen. Die Regionen bringen die leitenden Kulturen hervor, nicht die Nation. Gibt es denn eine Klammer, die diese regionalen Kulturen auf einer nationalen Ebene zusammenführt und repräsentiert, ist die nächste Frage. Die Antwort ist: Nein. Der nationale Narrativ der Deutschen ist, wie andere nationale Narrative, ein Mythos. Ganz im Gegenteil die Regionen! Die sind echt, man kann sie schmecken, hören, sehen und zu Fuss erwandern. 

Die authentische Klammer, die alle Regionen des Alten Europa umgibt, ist die europäische Identität. Sie hat die Größe und die Weite, die Verschiedenheit des Kontinents erhaben distanziert und gleichzeitig lebensweltlich nah zu verkörpern. Von Sizilien bis nach Island, von Lissabon bis nach Prag gibt es religiöse, kulturelle, philosophische, politische, ökonomische Gemeinsamkeiten. Was uns bis dato fehlt ist das gemeinsame Arbeiten an dieser europäischen Identität, weil der Nationalstaat und die, die sich von seiner Überhöhung nähren (ich meine die rechtspopulistischen Bewegungen der Gegenwart), auch die frömmsten Wahlkampfstrategen in den demokratischen Parteien dazu verleitet, es den Nationalisten, rhetorisch zumindest, nachzutun.

Das, was auf europäischer Ebene in Sachen Identität und leitender Kultur aufgefunden und herausgestellt werden kann, wirkt niemals fremd oder artifiziell, denn das, was so beschreiben wird, ist viel, viel älter als jeder Nationalstaat Europas. Auf der Ebene Europa ist auch all das angesiedelt, was die Guten mit dem Begriff der deutschen Leitkultur eigentlich sagen wollen: die Menschenrechte, die Demokratie, die Gewaltenteilung, das philosophische und spirituelle Erbe des Christentums, die schönen Künste und die Architektur, der Anstand und das gute Benehmen, die Regeln der Freundschaft und die Sitten einer Partnerschaft. Diese erhalten ihren Sinn und ihre Identität nur durch die kulturelle Klammer Europas, die wiederum von den Regionen gehalten wird. 

Europa hat als Konzept von Leitkultur auch die nötige Zurüstung, um Vielfalt auszuhalten. Verschiedene Sprachen, Literaturen, Traditionen stecken daher eben nicht eigene Räume ab, sondern definieren den einen Raum durch diese Pluralität. Die nationalen Narrative entlarven sich an dieser Stelle selbst: ihnen geht die Gelassenheit ab, Unterschiede zuzulassen und zu ertragen. Ihnen fehlt der sichere Stand, der den Regionen Europas durch die Gewissheit der Jahrhunderte zugesagt ist. Deutschland gibt es, weil es Europa gibt. Unsere Leitkultur ist europäisch, nicht national. Europa ist auf dem Weg, seine Leitkultur vielfältiger Eigenheiten aus zu buchstabieren. Am Ende dieses Weges mag eine europäische Verfassung diese Kultur ausdrücklich würdigen.

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