Bei so viel Wandel, braucht es da nicht auch etwas Beharrung, etwas Stabiles, etwas, das an vorangegangenes erinnert? Offenkundig ist der deutsche Parlamentarismus in der Krise, denn den Parteien gelingt es nicht mehr, Koalitionen zu schmieden. Unter Hängen und Würgen kommt vielleicht eine dritte große Koalition zustande oder aber, nicht ganz unwahrscheinlich, eine Minderheitsregierung.
Wenn jetzt neu gedacht werden muss, macht man das nicht am besten, indem man ein paar von den „alten Häsinnen und Hasen“ in Spitzenpositionen der Parteien, beispielsweise der SPD, belässt?
Deutschland ist am Ende einer Entwicklung, die 2005 ihren Ausgang nahm. Am Wahlabend war, trotz allen Rechnens, nur eine große Koalition möglich. Die Union hatte auf den letzten Metern ihren Vorsprung verspielt. Der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder, der mit einem Misstrauensantrag die Neuwahl auslöste, lästerte ohne Unterlass gegen den Trumpf der Union, Professor Paul Kirchhoff. Schröder würdigte ihn als „Professor aus Heidelberg“ herab und mit ihm das neue Steuerkonzept der Merkel-Partei. An jenem Schicksalsabend wurde im bei der Wahlparty der CDU kein Perlensaft ausgeschenkt. Niemanden war nach feiern zumute, trotz der Tatsache, dass man stärkste Partei geworden war.
SPD stimmt über Groko ab
Es startet offiziell am Dienstag, bis dann soll auch das letzte Mitglied die Unterlagen im Briefkasten haben, viele haben diese bereits erhalten. Die nun startende Abstimmung dauert bis 2. März, 24 Uhr. Dafür muss man auch eine eidesstattliche Erklärung ausfüllen. Alle Briefe, die später im Postfach des Parteivorstands eingehen, werden nicht mehr berücksichtigt. Stimmberechtigt sind exakt 463 723 SPD-Mitglieder, die bis zum Stichtag 06. Februar Mitglied waren. Die Kosten belaufen sich nach SPD-Angaben auf rund 1,5 Millionen Euro.
Ja. Die Parteizeitung „Vorwärts“ druckte eine Sonderausgabe mit dem 177-seitigen Koalitionsvertrag, die auch per Post verschickt wurde. Zudem kann der Vertrag online heruntergeladen werden. Die gestellte Frage an die Mitglieder lautet: „Soll die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) den mit der Christlich-Demokratischen Union (CDU) und der Christlich-Sozialen Union (CSU) ausgehandelten Koalitionsvertrag vom Februar 2018 abschließen? - Ja oder Nein.“
Nein. Eine Online-Abstimmung ist bislang nur für rund 2300 im Ausland lebende SPD-Mitglieder möglich. Klappt dieser Test, kann eine Option mit Internetabstimmung beim nächsten Mal auch im Inland bei einem SPD-Mitgliederentscheid zum Einsatz kommen. Aber: Die Kosten wird das kaum reduzieren, viele SPD-Mitglieder über 60 Jahre alt sind und die Partei aus Verfahrensgründen die Unterlagen auch per Post zusenden muss. Daher lässt sich das Votum auch kaum beschleunigen.
Die Post wird die Briefe per Lastwagen zur Berliner SPD-Zentrale, dem Willy-Brandt-Haus, bringen. Anders als 2013 wird keine Halle für die Auszählung angemietet, damals fand sie in einem früheren Postbahnhof statt. Die SPD hat durch die schwierige Regierungsbildung hohe Kosten zu verkraften, unter anderem durch den Groko-Sonderparteitag. Hinzu kommt wegen des schlechten Bundestagswahlergebnisses weniger Geld aus der Parteienfinanzierung. Allein Sonderparteitag und Votum kosten die SPD rund 2,5 Millionen Euro extra. Die 120 Freiwilligen, die beim Auszählen im Willy-Brandt-Haus helfen, müssen ihre Handys abgeben, damit das Wahlgeheimnis nicht gefährdet wird. Zur Brieföffnung kommen Hochleistungsschlitzmaschinen zum Einsatz - sie können pro Stunde 20 000 Briefe öffnen. 2013 dauerte die Auszählung rund 14 Stunden.
Am Sonntag, den 4. März, wahrscheinlich am frühen Nachmittag. Und zwar nach bisheriger Planung nicht von dem kommisarischen SPD-Chef Olaf Scholz oder der designierten SPD-Chefin Andrea Nahles, die auf einem weiteren Sonderparteitag am 22. April in Wiesbaden gewählt werden soll. Beim letzten Mal verkündete das in ganz Europa erwartete Ergebnis Barbara Hendricks, weil sie Vorsitzende der Mandatsprüfungs- und Zählkommission war - dieses Mal wäre das Schatzmeister Dietmar Nietan. Das Ergebnis für Annahme oder Ablehnung der Koalition ist bindend, wenn mindestens 20 Prozent der Mitglieder abstimmen. Der 45-köpfige Vorstand kann sich nicht über das Ergebnis hinwegsetzen.
Es wurden damals 369 680 Stimmen abgegeben. (77,86 Prozent), davon wirksam, also fristgerecht eingegangen, waren 337 880. Mit Ja stimmten damals 256 643 SPD-Mitglieder (75,96 Prozent). Gibt es ein Ja, will die SPD-Spitze danach die Besetzung der sechs SPD-Ressorts in der geplanten dritten großen Koalition unter Kanzlerin Merkel bekanntgeben.
Alle Koalitionen mit Merkel hätten gezeigt, dass kein Politikwechsel oder Aufbruch möglich sei. Es werde an Stellschrauben gedreht, aber nichts ganz Neues gewagt. Juso-Chef Kühnert kritisiert, es gebe über 100 Kommissionen und Prüfaufträge im Koalitionsvertrag, es fehle zudem an Maßnahmen gegen die ungleiche Vermögensentwicklung. Und so werde nun dfas Klimaziel 2020 aufgegeben und ein neues für 2030 auserkoren. „Das ist eine Politik, die Verantwortung weit in die Zukunft schiebt.“ Eine „NoGroko“-Initiative aus NRW, darunter auch Vorstandsmitglieder, meint: „Eine neue Zeit braucht eine neue Politik“. Kernforderungen seien unerfüllt. So werde die grundlose Jobbefristung in Betrieben über 75 Beschäftigten zwar eingeschränkt. In kleineren Betrieben und im öffentlichen Dienst bleibe sie aber „vollumfänglich bestehen“.
Wie schon 2013 hat das Bundesverfassungsgericht Eilanträge abgelehnt, dass das Votum nicht mit dem Prinzip der Freiheit der Abgeordneten und den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie vereinbar sei. Dabei wird argumentiert, dass ein solches Votum der Mitglieder die frei gewählten Bundestagsabgeordneten binde. Aber es wird ja hier nicht direkt über ein Regierungshandeln oder die Zusammensetzung einer Regierung entschieden, sondern nur, ob eine Partei sich daran beteiligen will. So meint die Landeschefin von Baden-Württemberg, Leni Breymeier mit Blick auf FDP-Chef Christian Lindner: „So was entscheidet in der FDP ein Mann alleine“. Bei der CDU werden nicht alle Mitglieder entscheiden, sondern ein Parteitag am 26. Februar.
Nach den Chaos-Tagen bei der SPD schlägt das Pendel eher Richtung GroKo aus. Denn laut ARD-„Deutschlandtrend“ steht die SPD nur noch bei 16 Prozent, einen Punkt vor der AfD - bei einer Neuwahl müsste die älteste demokratische Partei Deutschlands ein Debakel fürchten. „Ich bin zuversichtlich: Am Ende wird es ein Ja geben“, sagte der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. Ein Kenner der Parteiseele tippt auf ein Ergebnis von 60:40. Aber es ist keine Zustimmung mit dem Herzen, sondern nur aus kühler Ratio. Kanzlerin Merkel könnte dann in der ersten März-Hälfte wiedergewählt werden.
Die längste Regierungsbildung der Bundesrepublik wird in jedem Fall auch noch die 160-Tages-Schwelle reißen, also fast ein halbes Jahr. Sagt die Basis Nein, müssten die Karten ganz neu gemischt werden - dann drohen Verwerfungen, Merkel könnte versuchen, ohne feste Mehrheit zu regieren und sich für Auslandseinsätze oder den Haushalt unterschiedliche Partner für eine Mehrheit zu suchen - aber sie könnte jederzeit durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden.
Nein. Der Weg dahin ist schwierig, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier müsste erst jemanden zur Kanzlerwahl im Bundestag vorschlagen. Es würde mangels Koalition keine absolute Mehrheit etwa für Merkel geben - im dritten Wahlgang würde die relative Mehrheit reichen. Steinmeier müsste dann entscheiden, ob er sie zur Kanzlerin einer Minderheitsregierung ernennt - er könnte auch den Bundestag auflösen. Dann müsste binnen 60 Tagen eine Neuwahl stattfinden. Es gibt für dieses Szenario Spekulationen, eine Neuwahl im Bund zusammen mit der Landtagswahl in Bayern am 14. Oktober 2018 anzustreben.
Die große Koalition ist in der Zwischenzeit der Normalfall der Bundespolitik. In einer aktuellen Umfrage sind die beiden größten Parteien aber erstmals gemeinsam unter der 50-Prozent-Marke verblieben. Die große Koalition bräuchte dringend einen neuen Namen.
In der SPD ist das Spitzenpersonal seit zwanzig Jahren dabei, etliche haben die Agenda 2010 mitgestaltet. Sie gehören, wie ihre Konterparts in der Union, zu den so genannten Babyboomern, deren Staats- und Politikverständnis nicht mehr in die Gegenwart passen. Es ist natürlich nicht das Lebensalter per se, das diese Politikerinnen und Politiker gebieten würde, aus den Ämtern zu scheiden. Es ist die Unfähigkeit, auf die Veränderungen der Welt mit frischen Ideen und neuen Maßnahmen zu reagieren.
Ein Teil dieser unangenehmen Wahrheit ist, dass Parteien, so wie sie von den Babyboomern verkörpert werden, heute in der Gesellschaft nicht mehr von Nutzen sind. Das Schachern um die Posten, gepaart mit der Rhetorik, dass es nicht um Posten gehe, ätzt das entnervte Publikum an. Sagt doch wenigstens, dass es um die Posten geht, das ist dann wenigstens ehrlich.
Das Problem: In den derzeitigen Strukturen ist kein Wandel möglich. Wenn man sich zwanzig Jahre mindestens durch alle Gremien gesessen und um die Partei verdient gemacht hat, dann versteht man, warum für etliche in der politischen Klasse das Minister- oder Staatssekretärsamt der Lohn für die diese Mühen war. Das ist menschlich sehr gut nachvollziehbar.
Nur ist das Land damit in die Sackgasse gefahren. Die Gegenseite dieses Arguments sagt: Deutschland geht es doch gut, wir haben Vollbeschäftigung. Stimmt – Deutschland könnte es aber viel besser gehen. Und Deutschland muss es auch in zwanzig, dreißig und vierzig Jahren gut gehen. Und nicht nur Deutschland: Wie sieht die Zukunft der Europäischen Union aus?
Die Politik alten Stils, die aussitzt bist es nicht mehr geht, hat zum krachenden Desaster, dem Ende des Dublin-Vertrags und der Flüchtlingskrise geführt. In den Jahren zuvor wurden die Südeuropäer mit dem Problem allein gelassen, danach die Balkanstaaten. Deutschland hat nicht agiert, keine Führung übernommen. Union und SPD, die acht der letzten zwölf Jahre gemeinsam regiert haben, wollen nun alles ganz anders machen. Das ist ein nobler Vorsatz, aber unrealistisch.
Tabula rasa, besonders in der Außen- und in der Europapolitik sind nötig, um Europa mit Deutschland in der Mitte, mutig für die Zukunft zu positionieren. Das kann kein Politiker der alten Garde mehr übernehmen. Auch nicht der Außenminister. Sigmar Gabriel, dessen Einsatz Deniz Yüzcel aus der türkischen Geiselhaft befreien half, sollte einer neuen Bundesregierung nicht mehr angehören. Regierung und SPD müssen sich erneuern – und das geht besser ohne Gabriel.
Die Sozialdemokratie muss sich von ihren verdienten Babyboomern verabschieden, wenn sie überleben und zukunftsfähig werden will. Die Grünen und die Liberalen haben ihre Häutung bereits vollzogen. In der CDU wird mit Annegret Kramp-Karrenbauer eine erfahrene Ministerpräsidentin neue Generalsekretärin. Sie gehört damit zum Kreis derer, die Angela Merkel an der Spitze von Union und Regierung beerben könnte. Das ist der erste Schritt aus der Krise der Parlamentarischen Demokratie. Neue Leute werden über neuen Themen neue Allianzen schmieden.