Wäre eine Neuwahl ein Menetekel an der Wand des Reichstagsgebäudes in Berlin? Nein! Deutschland würde nicht untergehen, seine Demokratie auch nicht. Die Mehrheit der Deutschen, 75 Prozent von ihnen, fürchten das nicht, sollten sich die Parteien einer möglichen Jamaika-Koalition jetzt nicht einig werden.
Das ist ein gutes Zeichen, denn es mag die potentiellen Koalitionäre von der Angst entbinden, für das Scheitern der Koalitionsverhandlungen bei einem erneuten Urnengang abgestraft zu werden. Die Wähler geben sich also angesichts von vier Parteien, deren Ideen zusammengeschnürt unter einen Hut gebracht werden sollen, realistisch: das mag gelingen, vielleicht aber auch nicht. Auch aus den Parteien klingt es ähnlich vernünftig: man kann sich vorstellen, gemeinsam zu regieren, man muss es aber nicht.
Es gibt allerdings eine Bedingung dafür, dass die Wählerinnen und Wähler eine mögliche Neuwahl gutheißen würden. Sie müssten den Verhandelnden abnehmen können, dass sie redlich versucht haben, einen Kompromiss zu finden. Da nichts darauf hindeutet, dass die bisherigen Gespräche von irgendeiner Seite nicht ernst genommen worden wären, wird es zu einer solchen Strafwahl nicht kommen. Ein zweites kommt hinzu: die Parteien dürfen den kairos, den rechten Augenblick für diesen Ausstieg nicht versäumen. Denn es ist richtig, was im biblischen Buch Kohelet geschrieben steht: „Alles hat seine Zeit unter der Sonne.“ Das gilt auch für Koalitionsverhandlungen. Irgendwann läuft ihre Zeit ab.
Eine Neuwahl mag, so werden ihre Gegner sagen, nichts groß verändern an dem Wahlergebnis: weder wird die AfD mehr Stimmen bekommen, noch die Union weniger. An der politischen Ausgangslage habe sich ja nichts geändert. Das ist nicht die ganze Sicht. Parteien und das Wahlvolk wüssten nun, was ihnen blüht in einer Zeit, in der wahrscheinlich drei oder vier Parteien eine Koalition eingehen werden. Das ist neu in der Geschichte der Bundesrepublik. Das einmal mehr einzuüben mag vielleicht nicht schaden.
Soli und Subventionen: Kernpunkte der Jamaika-Haushaltssondierungen
Die Jamaika-Unterhändler bekennen sich grundsätzlich zum ausgeglichenen Haushalt. Sie wollen also keine neuen Schulden aufnehmen. Das wäre ohnehin schwierig, weil die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse dem Bund seit 2016 die Aufnahme von Krediten weitgehend verwehrt. Nur in geringem Umfang von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung sind neue Schulden erlaubt. Bezogen auf das Bruttoninlandsprodukt 2016 entsprach das etwa 10,97 Milliarden Euro. Für „Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen“ ist ausnahmsweise auch eine höhere Schuldenaufnahme erlaubt, für die aber ein Tilgungsplan erstellt werden muss.
Die potenziellen Koalitionäre wollen keine neuen Substanzsteuern, schließen also die im Grünen-Wahlprogramm geforderte Vermögenssteuer aus. Für Union und FDP ist sie ein rotes Tuch. Auch eine Erhöhung der Erbschaftsteuer wäre wohl unwahrscheinlich. Andere Substanzsteuern wie etwa die Grundsteuer auf Grundstücke erhebt der Staat schon heute.
Hier sollen unter anderem Familien mit Kindern profitieren.
Die verhandelnden Parteien wollen den „Soli“ abbauen. Die FDP will ihn in der aktuellen Wahlperiode komplett abschaffen, und zwar möglichst schnell. Die Union will stufenweise vorgehen. Die Grünen halten das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts ohne den Soli hingegen nicht für machbar. Die Abschaffung würde eine Lücke in den Staatshaushalt reißen: Der Solidaritätszuschlag spülte 2016 insgesamt 16,9 Milliarden Euro in die Staatskasse.
Gebäude verursachen in Deutschland etwa 35 Prozent des Energieverbrauchs und 30 Prozent des Ausstoßes des Treibhausgases CO2. Investitionen zum Beispiel in eine bessere Wärmedämmung oder in moderne Heizkessel könnten in Zukunft besser von der Steuer abgesetzt werden.
Hier wollen die möglichen Jamaika-Partner den Mangel an Mietwohnungen angehen. Investoren könnten dann etwa ihre Kosten teilweise steuerlich absetzen. Auch landwirtschaftliche Flächen sollen dazu für den Wohnungsbau freigegeben werden.
Vor allem Unternehmen sollen die Anschaffungskosten für bewegliche Wirtschaftsgüter wie Maschinen oder Fahrzeuge stärker von der Steuer absetzen können. „Degressiv“ bedeutet, dass Güter mit längerer Nutzungsdauer in immer geringerem Umfang abgesetzt werden können. AfA steht für „Absetzung für Abnutzungen“.
Firmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, sollen ihre Aufwendungen zum Teil steuerlich absetzen können.
Auf Betreiben der Grünen sollen vor allem staatliche Hilfen auf den Prüfstand, die den Klimazielen widersprechen. FDP-Generalsekretärin Nicola Beer nannte als mögliches Beispiel aber auch die Förderung von Elektroautos, weil davon vor allem Besserverdiener profitieren würden.
Darüber hinaus könnte man sich ein positives Szenario denken, wonach bei einer Neuwahl vielleicht vermehrt bisherige Wahl-Abstinenzler anziehen würde. Wenn wir uns erinnern, dann hätte es nach dem Brexit eine andere Mehrheit gegeben, da zum einen Menschen ihre Entscheidung überdacht haben, zum anderen vormalige Nicht-Wähler sich geschworen hatten, dieses Mal zur Urne zu gehen.
Ein Scheitern von Jamaika wäre nicht akzeptabel
Eine Neuwahl würde zudem den Weg eröffnen für eine Formation, die es aus der Asche einer fatal gescheiterten Koalitionsverhandlung nicht geben würde: eine Minderheitsregierung der Union. Denn wenn das vorausgesagte stimmt, dann bliebe auch nach einer Neuwahl eine Regierungsbildung aus drei oder vier Parteien wahrscheinlich. Und selbst wenn, hypothetisch, eine Ampel unter der Führung der SPD möglich wäre, gäbe es ähnliche Hürden zu überwinden wie in einer Koalition, die die Union unter Angela Merkel anführt.
In einer Minderheitsregierung müsste die größte Partei ihrer Verantwortung gerecht werden und im Parlament je nach Gesetz, das zur Abstimmung gestellt wird, eine Mehrheit organisieren. Wäre das wiederum ein Untergang, ein Szenario, das politische Beliebigkeit favorisieren würde? Auch hier ein klares Nein! Es ist doch bereits hinreichend im parlamentarischen Betrieb zu beobachten, dass es geschlossene Weltbilder, Kadavergehorsam innerhalb einer Fraktion, nicht mehr in der Weise gibt, wie es einmal üblich war: bei der Abstimmung über die „Ehe für alle“ haben 25 Prozent der Unions-Abgeordneten für eine Öffnung der Ehe gestimmt, entgegen ihrer Parteilinie. Weitere Beispiele lassen sich finden.
Neuwahl und Minderheitsregierung, beides steht, wie gesagt, noch in den Sternen. Die Vielleicht-Koalitionäre geben ja allesamt zu Protokoll, dass Jamaika etwas werden kann. Dieses Projekt kann dann gelingen, wenn jede Partei Ressorts und Themen bekommt, die ihrer Programmatik entsprechen und für deren Umsetzung sie brennen. Diese können nur minimal modifiziert werden, vielleicht bisweilen auch nur sprachlich, um einen Konsens zu verabreden, bei dem niemand sein Gesicht verliert.
Und es wird Themen geben, auf die man sich nicht einigt, und die dann auch nicht angepackt werden können. Der Familiennachzug könnte so ein Thema sein.
Wenn hier der Dissens zu groß ist, muss man sich ehrlich ins Gesicht sagen, dass man nur koalieren kann, wenn man diesen Punkt ausklammert. Das ist vielleicht misslich in der Sache, aber dient einem höheren Ziel – eine Regierung zu bilden.
Nicht funktionieren würde, wenn man einmal Zugesagtes innerhalb der Legislaturperiode wieder versucht aufzuschnüren. So sehr wie eine Neuwahl im Moment von den Deutschen toleriert würde, so wenig würden sie ein Scheitern der Jamaika-Partner akzeptieren. Es gibt einen Punkt, an dem man noch umkehren kann. Auch so ein kairos. Der ist jetzt. Danach sind die Würfel gefallen.