Große Koalition Warum bei der SPD ohne Bürgerversicherung nichts geht

Doch noch Regierungsbeteiligung statt Oppositionsbank? Die SPD bereitet sich jedenfalls auf Verhandlungen vor. Dass ausgerechnet eine Gesundheitsreform die Genossen begeistern soll, ist bezeichnend.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Martin Schulz braucht starke Argumente um die skeptische Basis von der großen Koalition zu überzeugen. Quelle: AP

Um die gegenwärtige Debatte zu verstehen, muss man eines wissen: Die Bürgerversicherung hat eine nahe politische Verwandte - sie heißt Mütterrente. Beide Konzepte haben simple, aber gut klingende Namen, die beim ersten und zweiten Hören keinerlei Misstrauen auslösen. Ganz im Gegenteil: Wer wäre schon gegen eine Rente für Mütter oder Versicherungen für Bürger? Eben. Darüber hinaus gibt es eine weitere Parallele: die Wenigsten, die darüber sprechen, wissen auch genau, worüber. Erst recht kennen sie nicht die Fallstricke und Probleme. Man kann mit dem Schlachtruf „Bürgerversicherung jetzt!“ deshalb mühelos fast jede Debatte gewinnen und bestens munitioniert in den  politischen Kampf ziehen.

Und genau so ein Kampf steht der SPD bevor. Sollte die Parteiführung um Martin Schulz die Genossen am Ende eines langen Weges tatsächlich in eine Neuauflage der großen Koalition führen wollen (oder müssen), dann braucht sie gute Argumente. Und zwar im Plural: Um die hyper-grokoskeptische Basis zu überzeugen, die einer Regierungsbeteiligung zustimmen müsste, ist eine ganze Liste von Herzensanliegen nötig, mit deren Umsetzung man werben könnte. Sonst wird es nichts. Opposition ist zwar Mist, da hat Franz Müntefering zwar Recht – doch das Merkel-Trauma in der SPD ist noch immer so groß, dass die Behandlung schon sehr überzeugend ausfallen müsste.

Unverzichtbarer Teil der Medikation wäre eine Bürgerversicherung. Weil sie einen Anfang von Ende der vermeintlichen Zwei-Klassen-Medizin verspricht. Weil sie sich mit den privaten Krankenkassen anlegt. Weil sie einfach so unnachahmlich nach Solidarität und Gerechtigkeit klingt.

Man habe „keinen Zeitdruck“, sagt Schulz nun. Er werde „keine Optionen ausschließen“. Und erst recht gäbe es „keinen Automatismus für eine neue große Koalition“. Alles richtig, alles verhandlungstaktisch nachvollziehbar.  Es macht die Sache nur nicht einfacher. Denn Neuwahlen, noch dazu, wenn sie durch eine Blockade der Sozialdemokraten ausgelöst würden, wären ein großes, kaum kalkulierbares Risiko. Also doch: Koalitionsverhandlungen.

In Wahrheit aber – und das weiß unter Spitzengenossen auch jeder – fehlt es dann 2017 an den Großprojekten, die 2013 ein Ja zur großen Koalition noch zur obersten Genossenpflicht gemacht haben. Diesmal gibt es keinen Mindestlohn mehr, der noch eingeführt werden müsste. Die Frauenquote steht im Gesetzblatt. Rente mit 63, Regulierung der Zeitarbeit, Mietpreisbremse, sogar die Ehe für alle – alles durchgefochten. Es wird offiziell zwar leidenschaftlich bestritten, doch was die Groko 2.0 den Sozialdemokraten bieten könnte, hat weniger Aura, Glanz oder gar Potenzial, politische Leidenschaft zu erzeugen.

Ja, die SPD will endlich das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit durchsetzen. Okay. Sie will auch sachgrundlose Befristungen abschaffen – obwohl es außerhalb des öffentlichen Dienstes kaum ein nennenswertes Befristungsproblem gibt. Sie würde die Mietpreisbremse nachschärfen und sich für mehr Bundesgeld und Kompetenzen in der Bildung stark machen. Dazu käme eine milliardenschwere Stützung der Renten- und Pflegekassen.

Diese Entscheidungen liegen jetzt auf Eis
Peter Altmaier, kommissarischer Bundesfinanzminister Quelle: dpa
1. Der Haushalt arbeitet mit HandbremseProblematisch ist eine derartige vorläufige Haushaltsführung allerdings für die Bereiche und Ressorts, die eigentlich dringend mehr Mittel erhalten sollten. Dazu zählen derzeit Verteidigung, Bildung und Forschung, der Breitbandausbau, die innere Sicherheit und Verkehrsinvestitionen des Bundes. Geld, dass entweder für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit oder für mehr Sicherheit ausgegeben werden sollte, ist somit blockiert – womöglich bis weit ins Jahr 2018. Quelle: AP
2. Der EU-Reformmotor stocktDie Suche nach einer neuen Koalition in Berlin beeinträchtigt auch den EU-Politikbetrieb. „Ohne neue deutsche Regierung kann keine wichtige Entscheidung in Brüssel fallen“, sagt der EU-Botschafter eines großen Landes. Vor allem die Debatte über die Reform der Eurozone kann nicht wirklich anlaufen, so lange die geschäftsführende Bundeskanzlerin nicht weiß, unter welchen Umständen sie in den kommenden vier Jahren regieren wird. Bis zum Juni 2018 wollten die Staats- und Regierungschefs eigentlich entscheiden, ob sie den europäischen Rettungsschirm ESM in einen Europäischen Währungsfonds umwandeln wollen. Auch die Einführung eines  Euro-Finanzministers und eines eigenen Budgets für die Eurozone – beides fordert vehement der französische Präsident Emmanuel Macron – sollten bis dahin geklärt sein. Aus diesem Zeitplan wird wohl nichts.  „Es ist nicht lustig, wenn Deutschland als aktiver Faktor in der europäischen Politik über Monate ausfällt“, sagt der erfahrene CDU-Europa-Abgeordnete Elmar Brok. Quelle: dpa
3. Brexit-Deals werden unwahrscheinlicherEin ganz ähnliches Bild auch beim Brexit: In den laufenden Verhandlungen fällt Merkel in den kommenden Monaten als Schrittmacherin aus. Natürlich sind hier zunächst die Briten am Zug. Denn nur, wenn sie ausreichend auf die Forderungen der restlichen EU-Staaten eingehen, kann beim EU-Gipfel im Dezember die Entscheidung fallen, die zweite Phase der Verhandlungen zu eröffnen und endlich über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU zu sprechen. Quelle: dpa
3. Brexit-Deals werden unwahrscheinlicherAls Kanzlerin des größten Mitgliedsstaates, dessen Wirtschaft vom Brexit stark betroffen wäre, fällt Merkel bei den Verhandlungen aber eine besondere Rolle zu. Und auch wenn der Franzose Michel Barnier offiziell für die 27 EU-Staaten verhandelt, so wissen alle, dass es an heiklen Punkten nützlich sein wird, wenn Merkel mit der britischen Ministerpräsidentin Theresa May telefoniert. Mit dem Zusatz „geschäftsführend“ hat Merkel bei solchen Interventionen weder die gewohnte Autorität noch den Spielraum. Quelle: REUTERS
4. Deutschen Autobauern fehlt es an Unterstützung in BrüsselUnd nochmal Europa. Ohne Regierung in Berlin kann sich Deutschland auch bei einem für die Automobilindustrie extrem wichtigen Sachthema nicht positionieren: Den CO2-Limits nach 2021. Die EU-Kommission hat dazu Anfang November einen Vorschlag vorgelegt, der nun in die Gesetzgebung im Europäischen Parlament und zu den Fachministern der EU geht. Frankreich hält die Vorgaben der EU-Kommission nicht für streng genug und besetzt damit schon einmal eine eindeutige Verhandlungsposition. Wenn Deutschland mit Verspätung antritt, wird das ein strategischer Nachteil sein. Quelle: dpa
4. Deutschen Autobauern fehlt es an Unterstützung in BrüsselÜblicherweise kann sich die deutsche Automobilindustrie auf Schützenhilfe jeder Bundesregierung in Brüssel verlassen. kein Wunder, dass Matthias Wissmann, der Präsident des Automobilverbandes VDA bereits appelliert: „Deutschland braucht eine stabile Regierung, die die marktwirtschaftlichen Kräfte stärkt und die Balance hält zwischen einer engagierten Industrie- und Wirtschaftspolitik einerseits und einer verantwortungsvollen Umwelt- und Sozialpolitik andererseits.“  Würgt uns nicht den Industriestandort ab, soll das übersetzt heißen. Quelle: dpa

Alles fürwahr sehr sozialdemokratisch, nur eben nicht so überzeugend wie das Programm von 2013. Deshalb ist die Bürgerversicherung gerade jetzt von so hoher Symbolkraft: sie suggeriert nämlich eine Art gesundheitspolitische Revolution. Mag die Realität dann viel schnöder, die Details einer Gesundheitsreform deutlich komplizierter sein - es würde sich intern gut verkaufen.

Vor vier Jahren verblasste die  Bürgerversicherung noch hinter den anderen Großprojekten. In  den Verhandlungen damals opferte die SPD das Anliegen ohne große Reue zugunsten anderer. Diesmal soll sie der programmatische Star sein, muss sie es sogar. Damit ist über die Attraktivität des SPD-Angebots eigentlich alles gesagt.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%