Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg waren eine Zäsur. Die Alternative für Deutschland hat es in die Parlamente in Stuttgart, Mainz und Magdeburg geschafft - überall mit zweistelligen Ergebnissen. In Sachsen-Anhalt ist sie mit über 24 Prozent sogar die zweitstärkste Kraft. CDU und SPD heißen die Verlierer dieser Wahlen. Weitermachen müssen sie in Berlin nun trotzdem. Diese Bundesregierung ist bis September 2017 gewählt, Koalitionszoff hin, Zersetzungstendenzen der Volksparteien und Aufstieg der AfD her. Und es gibt zahlreiche Themen jenseits der Flüchtlingskrise, die es in unserer Republik dringend anzupacken gibt. Die WirtschaftsWoche hat vier der wichtigsten wirtschaftspolitischen Baustellen zusammengestellt:
Werkverträge und Leiharbeit
Aus allen Rohren feuerten Sozialdemokraten Breitseiten in Richtung Bayern. „Ein Affront“, schimpfte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Christine Lambrecht. „Unerhörtes Verhalten“, rief Fraktionsvize Carola Reimann. Und der Vize-Parteivorsitzende Torsten Schäfer-Gümbel hatte „Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit“ von CSU-Chef Horst Seehofer.
Was passiert war? Die CSU hatte ein Veto gegen das jüngste Herzensprojekt der SPD einlegt: die Reform von Zeitarbeit und Werkverträgen. Das Nein traf die SPD unvorbereitet, umso größer war der Zorn.
Zwei Wochen ist das her. Der Pulverdampf hat sich verzogen, der Streit aber bleibt ungelöst, nur sind jetzt die Fronten noch verhärteter. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will den Einsatz von Zeitarbeitern auf 18 Monate begrenzen und Werkverträge, ein Herzstück jeder arbeitsteiligen Wirtschaft, klar definieren, damit Löhne nicht gedrückt werden können. Missbrauch bekämpfen, nennt die Ministerin das. Viele Unternehmer nennen es: Freiheitsberaubung.
Dabei ist weniger das Ansinnen problematisch, die Verleihdauer von Zeitarbeitern einzuschränken – zumal es tarifliche Ausnahmen geben soll – oder zu verbieten, dass dieses Zusatzpersonal als Streikbrecher eingesetzt werden kann. Damit können weite Teile der Wirtschaft leben. Viel heikler wären mögliche Änderungen bei den Werkverträgen. Denn hier geht es um die DNA der Marktwirtschaft: Auslagerung von Spezialdiensten, Aufträge an Selbstständige, nahezu jede Form außerbetrieblicher Arbeitsteilung, die es millionenfach in Deutschland gibt, wären davon berührt, im Zweifel gefährdet. Die Gefahr, mehr Gutes kaputt zu machen, als Schlechtes zu lindern, ist groß.
Nahles auf Konfrontationskurs
Ein Argument hat Nahles auf ihrer Seite: den Koalitionsvertrag. Nach einer Warnung der Kanzlerin im Herbst hatte die Ministerin ihre erste Fassung des Gesetzes in Pendeldiplomatie zwischen Gewerkschafts- und Arbeitgeberlager zur Konsensfähigkeit abgemildert. Nahles hielt die überarbeitete Fassung für beschlussreif – bis das kam, was sie heute die „Blutgrätsche aus Bayern“ nennt.
Hier haben die meisten Menschen einen befristeten Arbeitsvertrag
Deutschlandweit haben 7,6 Prozent der Frauen und 6,5 Prozent der Männer nur einen befristeten Arbeitsvertrag. Das geht aus dem IAB-Betriebspanel hervor.
Am besten ist die Lage für Arbeitnehmer in Bayern: Dort arbeiten nur 7,5 Prozent der Frauen und 4,3 Prozent der Männer befristet.
Auch im Norden Deutschlands sieht es gut aus: 7,8 Prozent der Frauen und 5,6 Prozent der Männer haben keinen unbefristeten Job.
In Thüringen hangeln sich 8,2 Prozent der Frauen und 5,9 Prozent der Männer von Befristung zu Befristung.
8,4 Prozent der sächsischen Frauen und 5,5, Prozent der Männer arbeiten befristet.
Im Saarland liegt der Anteil der Frauen, die keinen unbefristeten Arbeitsvertrag haben, wie auch in Sachsen bei 8,4 Prozent. Der Anteil der Männer beträgt 5,8 Prozent.
In Hessen arbeiten ebenfalls 8,4 Prozent der Frauen befristet, bei den Männern sind es 6,4 Prozent.
8,5 Prozent der Frauen arbeiten befristet, bei den Männern haben 6,2 Prozent keinen unbefristeten Arbeitsvertrag.
8,6 Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer haben keinen unbefristeten Arbeitsvertrag.
In Rheinland-Pfalz haben deutlich mehr Frauen als Männer einen befristeten Arbeitsvertrag. 8,7 Prozent stehen 5,6 Prozent gegenüber.
Ähnlich deutlich ist das Verhältnis in Baden-Württemberg: Hier haben 8,8 Prozent der Frauen und 5,7 Prozent der Männer einen befristeten Arbeitsvertrag.
Im Stadtstaat Bremen arbeiten 9,2 Prozent der Frauen befristet. Bei den Männern sind es sogar noch mehr: 9,5 Prozent der männlichen Bremer hangeln sich von Vertrag zu Vertrag.
In NRW haben 9,3 Prozent der Frauen und 7,2 Prozent der Männer befristete Arbeitsverträge.
In Brandenburg arbeiten 9,7 Prozent der Frauen befristet. Bei den Männern sind es 10,2 Prozent.
9,9 Prozent der Frauen und 8,2 Prozent der Männer in Mecklenburg-Vorpommern haben keinen unbefristeten Arbeitsvertrag.
In Hamburg sind 10,6 Prozent der Frauen und 7,5 Prozent der Männer befristet eingestellt.
Die Bundeshauptstadt ist trauriger Spitzenreiter: 13,1 Prozent der Frauen und 10,4 Prozent der Männer haben keinen unbefristeten Job.
Umso schärfer tritt sie nun zurück: „Ich werde an dem Text nicht mal mehr ein Komma ändern“, sagt sie der WirtschaftsWoche. Kanzleramtschef Peter Altmaier müsse nun schnell die Ressortabstimmung des Gesetzes einleiten, fordert sie. Nahles’ Problem ist nur: Für die CSU war das harte Veto in erster Linie ein taktisches Foul – um Drohpotenzial in der davon völlig unabhängigen Flüchtlingsfrage aufzubauen. Die wirtschaftspolitische Profilierung gab es gratis dazu. Solange dieser Großkonflikt zwischen München und dem Kanzleramt schwelt, dürfte Nahles unerhört bleiben. Die allermeisten Unternehmer würde der politische Stillstand hier ausnahmsweise freuen.
Elektromobilität
Lange hat sie gezögert, aber nun ist auch Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) dabei. Gemeinsam mit ihren Kabinettskollegen Sigmar Gabriel (Wirtschaft, SPD) und Alexander Dobrindt (Verkehr, CSU) fordert sie eine Kaufprämie für Privatkunden von 5000 Euro pro Elektroauto, 3000 für Gewerbetreibende. Der Förderbeitrag soll im Juli starten, bis Ende 2020 laufen und jedes Jahr um 500 Euro pro Auto abgeschmolzen werden. So sollen 2020 mindestens eine Million Stromer auf deutschen Straßen fahren, das erklärte Koalitionsziel.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) stemmt sich zwar dagegen, schließlich würde die Subvention – ausgerechnet für die milliardenschwere deutsche Autoindustrie – bis 2020 rund 1,3 Milliarden Euro kosten. Zwar sieht das Konzeptpapier des Minister-Trios eine Beteiligung der Autohersteller von 40 Prozent vor, sodass Schäuble nur mit 800 Millionen Euro kalkulieren müsste. Doch die Kaufprämie wäre nur eine von sieben vorgeschlagenen Maßnahmen. Ziemlich sicher ist, dass der Bund auch den Aufbau von 15 000 Ladesäulen mitfinanzieren, die Batterieforschung fördern und künftig 20 Prozent der Dienstflotten auf Elektroantrieb umstellen will.
Aber selbst Schäuble sträubt sich nicht wirklich, zu klar ist der Wunsch von Kanzleramt und Rest-Kabinett, dem erklärten Millionenziel endlich näherzukommen. Man müsse über intelligente Lösungen nachdenken, heißt es nur noch aus seinem Ministerium. Das nächste Elektromobilitätstreffen zwischen Minister und Bundeskanzlerin wurde von März auf Mitte April verschoben.
Was passiert mit dem Atommüll?
Zwei Entscheidungen sollen unter dieser Regierung dazu noch fallen, beide haben es in sich: Wer zahlt fürs Reinemachen am Ende der Atomära, und wo bleibt der strahlende Müll? Beide Kommissionen, die dafür eingesetzt wurden, arbeiten deutlich langsamer als geplant.
In der Atomkommission, die das Finanzielle regeln soll, gibt Exbundesumweltminister Jürgen Trittin den Schrecken der Energiekonzerne. Die 19 Experten hätten Ende Februar bereits Ergebnisse vorlegen sollen. Doch sie verhakelten sich mit den Kernkraftkonzernen, wer wie viel für den Abbruch der Meiler, fürs Zwischenlager und ein Atomgrab zahlen soll. Immerhin geht es um mindestens rund 50 Milliarden Euro, bedrohlich für Erzeuger und potenziell teuer für Steuerzahler. Also droht Trittin nun: „Die schwierigste Situation für die Unternehmen entsteht, wenn es nicht zu einem Entsorgungskonsens kommt.“ Im Klartext: Bleibt unsicher, wie viele Milliarden die großen vier abzwacken müssen, ist kaum ein Investor bereit, den Weg in die neue Energiewelt zu ebnen. Mindestens bis April wird diese Kommission tagen. Die vier Kernkraftbetreiber haben mehr als 38 Milliarden Euro an Rückstellungen gebildet. Ob die ausreichen, ist unsicher. Außerdem ist das Geld gebunden in Kraftwerken und Netzen.
Über ein Endlager soll eine zweite Kommission befinden. Auch sie müht sich um Regeln für die Suche nach einem Standort. Mit Bürgerbeteiligung wird wohl erst um 2050 herum ein unterirdisches Lager bereit sein. Das erhöht die Kosten des Ausstiegs. Trittin glaubt am längeren Hebel zu sitzen: „Eine Einigung um jeden Preis wird es nicht geben.“ Nach bisheriger Lage müssten die Konzerne allein zahlen. Fraglich ist nur, wie lange es sie noch gibt.
Erbschaftsteuer
Für Ralph Brinkhaus war es ein schwerer Schlag. Drei Monate hatte der Finanzexperte der Unionsfraktion im Bundestag mit seinen Kollegen von SPD und CSU zum Reform-Dauerbrenner Erbschaftsteuer verhandelt. Mitte Februar schienen sie endlich einen Kompromiss gefunden zu haben.
Die Atomklagen der Energiekonzerne
E.On, RWE und Vattenfall haben gegen den 2011 beschlossenen beschleunigten Atomausstieg vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Das Gericht will noch 2015 entscheiden. Den Konzernen geht es nicht darum, den bis Ende 2022 geplanten Ausstieg rückgängig zu machen. Sie fordern jedoch Schadenersatz, da die Bundesregierung wenige Monate vor der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima die Laufzeiten der Meiler noch verlängert hatte. Sollte das Verfassungsgericht den Unternehmen Recht geben, müssten diese den Schadenersatz in weiteren Verfahren erstreiten. Eon fordert über acht Milliarden Euro. RWE hat keine Zahlen genannt, die Analysten der Deutschen Bank gehen von sechs Milliarden Euro aus. Vattenfall will 4,7 Milliarden Euro und klagt zudem vor einem Schiedsgericht in den USA.
E.On, RWE und EnBW klagen gegen Bund und Länder wegen des nach der Atomkatastrophe von Fukushima verhängten dreimonatigen Betriebsverbots für die sieben ältesten der damals 17 deutschen AKWs plus dem damals geschlossenen AKW Krümmel. Das Moratorium lief von März bis Juni 2011 und mündete schließlich im August im endgültigen Ausstiegsbeschluss. Ursprünglich hatte lediglich RWE geklagt. Nachdem der Energieriese vor Gericht Recht bekam, zogen Eon und EnBW nach. Eon klagt auf Schadenersatz in Höhe von 380 Millionen Euro. RWE fordert 235 Millionen Euro, EnBW einen „niedrigen dreistelligen Millionenbetrag“.
E.On, RWE und EnBW klagen auf eine Befreiung und Rückzahlung der 2011 eingeführten Brennelementesteuer. Diese wird noch bis 2016 erhoben. Eon hat nach eigenen Angaben 2,3 Milliarden Euro an den Bund gezahlt, RWE 1,23 Milliarden Euro und EnBW 1,1 Milliarden Euro. Die Verfahren sind vor dem Bundesverfassungsgericht und der Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Der Generalanwalt des EuGH hält die Steuer jedoch mit europäischem Recht vereinbar. Seine Einschätzung ist für das Gericht aber nicht bindend.
E.On hat im Oktober 2014 wegen der im Atomgesetz vorgesehenen standortnahen Zwischenlagerung wieder aufbereiteter Atomabfälle, die aus dem Ausland zurückgeholt werden, geklagt. Die Klage richtet sich gegen die Länder Niedersachsen und Bayern sowie den Bund. Vattenfall hat im selben Zusammenhang gegen Schleswig-Holstein und den Bund geklagt. Auch RWE hat Klage eingereicht. Es geht um Mehrkosten für die Betreiber, nachdem es keine Transporte dieser Abfälle mehr in das Lager nach Gorleben geben soll. Die Konzerne halten Gorleben jedoch weiter für den richtigen Standort.
Doch Tage später wischte CSU-Parteichef Horst Seehofer die vom Tisch. Einige Unternehmensfamilien würden nicht ausreichend verschont, kritisierte Seehofer und verlangte nach einem Spitzengespräch der drei Parteivorsitzenden. Das Gespräch mag der Bayer zwar bekommen, doch die Chancen auf weiter gehende Zugeständnisse sind gering. „Die SPD wird sich nach den Wahlen am Sonntag keinen Millimeter mehr bewegen“, heißt es in der Unionsfraktion. Damit schwinden die Chancen einer Reform innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist bis zum 30. Juni 2016. Dann könnten die von Karlsruhe monierten Verschonungsregeln gänzlich außer Kraft geraten. Für Mittelständler wäre das der größte anzunehmende Unfall.
Jede Menge anzupacken
Vier politische Baustellen, vier Beispiele, dass in Deutschland jede Menge anzupacken ist, ganz gleich, ob sich nach den Landtagswahlen in der Union die Kanzlerinnenfrage stellt, SPD-Chef Gabriel vor dem Rücktritt steht oder die AfD die Parteienlandschaft umgepflügt hat. Sprechen Regierungsmitglieder wie CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn über den Aufstieg der Populisten und die Erosion der Volksparteien, betonen sie, Taten könnten überzeugen, nicht viele Worte. Die große Koalition hat das in der Hand, noch rund 16 Monate lang.