
„Freiheit verteidigen“ – das ist der Titel des neuen Buches von Grünen-Vordenker und dem Vorstand der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks. Zusammen mit Kanzleramtschef Peter Altmaier stellt er es in Berlin vor. Die liberale Politik erscheine ihm kraftlos, sagt Fücks in seinem Vortrag. Im anschließenden Interview mit der WirtschaftsWoche erklärt er, welche Gefahren daraus entstehen – und was die Grünen aus der Entwicklung lernen müssen.
Herr Fücks, Donald Trump erobert das Weiße Haus, in Frankreich führt Marine Le Pen die Umfragen an – und in Deutschland will die AfD die Zeit zurück drehen. Wie steht es um die liberale Gesellschaft?
Die liberale Demokratie steht von zwei Seiten unter Druck. Da sind zum einen Länder wie Russland, China, der Iran und neuerdings die Türkei, die ganz offensiv antiliberale Positionen vertreten. Zugleich wird die offene Gesellschaft von innen in Frage gestellt. Trump und Le Pen sind nur die Spitze des Eisbergs.
Woher kommt der Rückfall in die alten Muster?
Der gesellschaftliche Grundton ist verunsichert und gereizt. Unsere Gesellschaft verändert sich in hohem Tempo. Globalisierung, weltweite Migration, das Ende der patriarchalen Familie, die digitale Revolution mit ihren disruptiven Wirkungen – das alles wird von Teilen der Bevölkerung als Bedrohung empfunden. Diese Stimmungslage wird von den Rechtspopulisten aufgefangen.
Die SPD und die K-Frage – ein Hang zur Sturzgeburt
... der SPD-Kanzlerkandidaten hat schon oft für besondere Geschichten gesorgt. Vier Beispiele.
1998 - GERHARD SCHRÖDER: Damals konkurrieren Schröder und Parteichef Oskar Lafontaine um die Spitzenkandidatur. Entschieden wird das Rennen am 1. März bei der Landtagswahl in Niedersachsen. Der kraftstrotzende Ministerpräsident Schröder hat angekündigt, in der K-Frage zurückzuziehen, wenn er mehr als zwei Prozentpunkte verliert. Schröder aber rockt die Wahl, holt für die SPD mit 47,9 Prozent ein Plus von 3,6 Prozentpunkten. Irgendwann klingelt in Hannover ein Telefon. Schröder geht ran, es ist Lafontaine: „Na, Kandidat“, soll der Saarländer zur Begrüßung gesagt haben. Lafontaine macht den Weg für Schröder frei, bildet mit ihm im Wahlkampf eine Doppelspitze.
Schröder schlägt Kohl und wird Kanzler. Doch die Freundschaft mit Oskar zerbricht. Im März 1999 schmeißt der gekränkte Finanzminister Lafontaine hin, wird später Chef der neuen Linkspartei. „Und so resultierte aus dem Dualismus der sozialdemokratischen Doppelspitze des Jahres 1998 die Spaltung der Linken sieben Jahre später“, schreibt der Göttinger Parteienforscher und SPD-Kenner Franz Walter für den „Spiegel“.
2009 - FRANK-WALTER STEINMEIER: Am 6. September 2008, einem Samstag ein Jahr vor der Wahl, sickert durch, dass Außenminister Steinmeier bei der K-Frage zugreift. Erst heißt es noch, das sei im besten Einvernehmen mit Parteichef Kurt Beck erfolgt. Doch am Tag darauf kommt es bei der Klausur der Spitzengenossen zum Putsch vom Schwielowsee. Der glücklose Pfälzer Beck schmeißt entnervt hin, spricht von Intrigen. Franz Müntefering kehrt an die Parteispitze zurück. Dem in Umfragen populären Steinmeier geht auf der Strecke die Luft aus. Gegen Angela Merkel hat er am Ende keine Chance, die SPD stürzt mit 23 Prozent auf ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis ab.
2013 - PEER STEINBRÜCK: Auch dieses Mal kommt es anders, als es sich die Parteispitze vorgenommen hat. Drei Kandidaten stehen zur Auswahl: Ex-Finanzminister Steinbrück, Parteichef Sigmar Gabriel und Steinmeier. Ende September 2012 macht Steinmeier, der sich eine erneute Kandidatur nicht antun will, beim Abendessen mit ein paar Journalisten seinen Verzicht deutlich. Das Drehbuch, die Verkündung möglichst bis zu Beginn des Wahljahres hinauszuzögern, ist im Eimer. Gabriel, der schon damals selbst nicht will, fliegt überstürzt aus München nach Berlin zurück, um Steinbrück in der Parteizentrale zu präsentieren. Die Kür ist verpatzt, es wird ein Pleiten-Pech-und-Pannen-Wahlkampf. Steinbrück und die SPD landen bei 25,7 Prozent. Gabriel führt die SPD per Mitgliederentscheid in die große Koalition.
2017 - MARTIN SCHULZ: Monatelang zaudert Gabriel, ob er selbst Angela Merkel herausfordern soll. Sein mieses Image in den Umfragen wirkt wie einbetoniert. Viele in der Partei stöhnen, mit dem unbeliebten Goslarer werde die SPD nichts reißen. Andere Spitzengenossen wollen Gabriel vor die Wand fahren lassen, um die Partei dann neu zu ordnen. Gabriel, der bereits länger an Rückzug denkt, will allein entscheiden. Er verdonnert die Führung zum Schweigen. Am 29. Januar soll das Rätsel um die K-Frage aufgeklärt werden. Der Zeitplan hält lange, die SPD zeigt sich diszipliniert.
Es kommt der 21. Januar. In Montabaur treffen sich Gabriel und Martin Schulz. Umfrage-Liebling Schulz denkt, er wird „nur“ Außenminister. Gabriel, der zum Wohl der SPD zurückziehen will, bietet ihm Parteivorsitz und Kandidatur an. Der Ex-EU-Politiker greift zu. Gabriel weiht den mit ihm befreundeten „Stern“-Chefredakteur Christian Krug ein. Weite Teile der SPD wissen von dem spektakulären Deal noch nichts. Gabriel will die Gremien am 24. Januar informieren. Daraus wird nichts - wieder gibt es eine Sturzgeburt. Eine halbe Stunde vor einer Fraktionssitzung wird im Internet das Titelbild des neuen „Sterns“ publik: „Der Rücktritt“.
In Deutschland sackt die AfD in den Umfragen derzeit deutlich ab. Ist das Problem wirklich so akut?
Ich denke schon. Wir erleben eine weltweite Rückkehr nationalistischer und autoritärer Tendenzen, einen Pendelschlag zum demokratischen Aufbruch von 1989/90. Das ist nicht erledigt, wenn die AfD ein paar Prozentpunkte verliert.
In Deutschland haben die Grünen einen erheblichen Anteil an der Öffnung der Gesellschaft. Sie sind eine Art Anti-AfD. Die Leute müssten der Partei doch eigentlich die Türen einrennen. Stattdessen steckt sie im Umfragetief. Warum?
Die Grünen sind eine liberale Partei, wenn es um die klassischen Bürgerrechte, Minderheiten und kulturelle Vielfalt geht. Sobald aber Wirtschaft und Ökologie aufgerufen sind, wird es schwieriger. Da gibt es durchaus Sympathie für den Staat als Vormund, der vorschreibt, was zu tun und zu lassen ist. Das passt nicht zum Bild einer freiheitlichen Partei. Über die Ökologie hinaus muss deutlicher werden, wie sich die Grünen bei zentralen Themen wie innere Sicherheit oder soziale Teilhabe von anderen unterscheiden.
Wie müssen sich die Grünen für die anstehenden Wahlkämpfe positionieren?
Wir müssen wieder als Zukunftspartei wahrgenommen werden. Die SPD mag die Revision der Agenda 2010 als großen Fortschritt verkaufen. Von den Grünen wird etwas anderes erwartet. Auch die Neuauflage der Vermögenssteuer-Debatte wird uns nicht nach vorn bringen. Wir sollten uns vor allem auf die großen Zukunftsfragen konzentrieren.
Wie gewährleisten wir Sicherheit in Zeiten stürmischer Veränderung, wie machen wir die Energiewende zu einem Erfolgsmodell, wie antworten wir auf die digitale Revolution? Wir brauchen mehr Mut zu unkonventionellen Ideen - etwa ein Bildungs-Grundeinkommen, das jedem Bürger erlaubt, sich im Verlauf seines Lebens immer wieder fortzubilden. Oder die Beteiligung breiter Bevölkerungskreise am Produktionsvermögen.