
Offenbach Fast klingt er ein bisschen so wie Guido Westerwelle zu seinen besten Zeiten. „In der politischen Debatte fehlt eine liberale Grundrechtspolitik, und die kann nur von uns kommen“, dröhnt Piratenchef Sebastian Nerz in das Mikrofon. Einmal in Fahrt, setzt er noch eins drauf: „Ich werde mittlerweile selbst aus Reihen der FDP angesprochen, dass wir die neue liberale Hoffnung in Deutschland sind.“
Die Piratenpartei als die neue liberale Kraft der Republik? Gemessen an den Meinungsumfragen, in denen die Politikneulinge immer noch doppelt so gut abschneiden wie die FDP, könnte man das fast glauben. Und auch was die Grundsätze ihrer Netzpolitik anbetrifft, würde niemand ernsthaft auf die Idee kommen, den Piraten ihre freiheitliche Geisteshaltung abzusprechen. Aber wie überträgt man das Wörtchen „liberal“ auf andere Politikbereiche, etwa auf die Wirtschafts- oder die Sozialpolitik?
Beim Parteitag in Offenbach suchen an diesem Wochenende mehr als 1300 Piraten nach einer Antwort auf diese Frage. Viel Zeit dafür haben sie nicht, denn seit die Piraten im September mit fulminanten 8,9 Prozent in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen sind, hat das bundesweite Interesse an der Partei schlagartig zugenommen. Das führt einerseits zu einer erhöhten Medienaufmerksamkeit, wie die gut 200 angereisten Journalisten eindrucksvoll belegen. Andererseits werden von der einstigen Internetpartei plötzlich Lösungen für wirtschaftliche Probleme erwartet – und die kann sie in den meisten Fällen noch nicht liefern.
Am Samstagmorgen bilden sich vor der Offenbacher Stadthalle, einem schmucklosen Betonbau abseits der Innenstadt, lange Schlagen. Der Andrang ist größer als die Organisatoren erwartet hatten. Im Vorfeld eine Prognose der Teilnehmerzahl zu treffen, ist aber auch schwierig, denn da es bei der Piratenpartei kein Delegiertensystem gibt, kann jedes Mitglied einfach so vorbeikommen.
Die Piraten ertragen die Verzögerung mit Fassung. Rauchend und feixend stehen sie vor einem eigens aufgestellten Boot, dessen orangefarbene Segel der Wind bläht. „Orange Pear“ haben die Piraten den Kahn getauft – eine Reminiszenz an das legendäre Freibeuter-Schiff „Black Pearl“ aus dem Piraten-Kultfilm „Fluch der Karibik.“
Der Parteitag beginnt verspätet, dafür aber mit lauter Musik und einer noch lauteren Rede. „Spätestens nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein wird man sehen, dass wir keine Eintagsfliege sind“, ruft der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz in den Saal und die Piraten jubeln.
Für Nerz geht es auch darum, sein persönliches Profil zu schärfen, und dafür hat der Piratenchef nur zehn Minuten Zeit. Mehr gestehen sie ihm nicht zu, denn Personenkult ist bei den Piraten verpönt. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass es der blasse, ein bisschen zu brav wirkende Bioinformatiker aus Tübingen überhaupt an die Parteispitze geschafft hat.
Nerz schwitzt, seine Rede liest er vom Blatt ab, und er schreit ein bisschen zu laut, wenn er die Einigkeit der Partei beschwört und vor Spaltungstendenzen warnt.
Auch später im Interview wirkt der Bundesvorsitzende fahrig, seine Finger spielen die ganze Zeit über mit einem zerrissenen Gummiband. Allerdings hat Nerz an diesem Parteitagswochenende auch ein Mammutprogramm zu absolvieren: Mehr als 50 Journalisten wollen einen Gesprächstermin mit ihm haben. Das mediale Dauerfeuer nimmt ihn mit, dass kann man sehen.
Suche nach Köpfen
Beim Walparteitag im Mai hatte es mit dem Berliner Christopher Lauer einen rhetorisch gewandten Gegenkandidaten gegeben, aber der war am Ende chancenlos gewesen. Auffällige Köpfe werden bei den Piraten nicht gesucht, hier ist das Kollektiv der Star. Die einzige Ausnahme ist die politische Geschäftsführerin Marina Weisband. Als sie in Offenbach ihre fünfminütige pointierte Rede hält, blitzt das einzige Mal so etwas wie Bewunderung im Saal auf.
Bevor es um inhaltliche Fragen geht, diskutieren die Mitglieder erst einmal die Tagesordnung. Und schon dabei tauchen beinahe unlösbare Probleme auf. Stolze 849 Seiten dick ist das Buch mit den Anträgen, und da der Parteitag im Idealfall höchstens 50 davon schafft, beginnt er mit einer hitzigen Debatte darüber, nach welchem Prinzip die zu bearbeitenden Anträge ausgewählt werden sollen. Die einen fordern ein Losverfahren, die anderen ein computergestütztes Zufallsprinzip. Am Ende setzt sich der Bundesvorstand durch, der im Vorfeld die 40 Anträge herausgefiltert hat, die auf den parteiinternen Plattformen am häufigsten diskutiert worden sind.
Den weiteren Vormittag verbringen die Parteimitglieder mit einer quälend langen Diskussion über die Grundzüge piratischer Politik – ohne konkretes Ergebnis. Der Frust im Saal steigt. „Haben wir jetzt eine Dreiviertelstunde diskutiert und nichts angenommen?“ fragt ein Pirat bei Twitter. Sie haben. Immerhin auf eine gemeinsame Erklärung gegen Rassismus können sich die Piraten vor dem Mittagessen noch verständigen.
Am frühen Nachmittag dann ist endlich das wichtigste und in der Partei umstrittenste Thema an der Reihe: das bedingungslose Grundeinkommen. Laut Antrag des Berliner Piraten Johannes Ponader soll die staatliche Zahlung die „Existenz sichern“ und „gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“. Und das alles „ohne Zwang zu Arbeit oder anderen Gegenleistungen“. Eine Enquete-Kommission des Bundestages solle sich über die Höhe und die Finanzierbarkeit Gedanken machen, die Wähler schließlich ein konkretes Modell per Volksentscheid beschließen, fordert Ponader. Bis es soweit ist, soll ein allgemein verbindlicher Mindestlohn her. „Übergangstechnologie“ nennen das die Piraten.
Der Antrag löst eine heftige Debatte aus: Von „unbezahlbaren Utopien“ sprechen die Gegner, von einem „dringend notwendigen“ Prinzip, dass sich ein „kack-reiches Land“ wie die Bundesrepublik locker leisten könne, die Befürworter. Nach einer gefühlt endlosen Rednerliste lässt der Versammlungsleiter abstimmen. Das Ergebnis ist denkbar knapp: 66,9 Prozent der Mitglieder stimmen dafür, die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wird um gerade einmal acht Stimmen erreicht.
Den Befürwortern ist das herzlich egal. Das Quorum war knapp, die Mehrheit aber ist deutlich. Riesiger Jubel bricht bei Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses los. Lediglich der Antragssteller selbst schlägt leisere Töne an. „Ich habe ein weinendes Auge, weil wir ein Drittel unserer Mitglieder überstimmt haben“, sagt Ponader, der sich auch in der Occupy-Bewegung engagiert. „Wir müssen jetzt die Zeit nutzen, um dieses Drittel zu überzeugen, unseren Weg mitzugehen“, appelliert er an seine Parteifreunde.
Nach der großen Entscheidung ist irgendwie die Luft raus. Die Piraten diskutieren über Managergehälter, Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger und den Datenschutz. Entscheidungen bringen sie kaum noch zu Stande. Lediglich ein Antrag darauf, die Zwangsmitgliedschaft in Handwerks-, Handels- und Industriekammern abzuschaffen, findet noch eine Mehrheit.
Am Abend hängt der Parteitag dem ursprünglichen Zeitplan mehr als drei Stunden hinterher, und selbst die 40 zu bearbeitenden Anträge rücken in weite Ferne. Werden die Mitglieder jetzt nervös, haben sie Angst, dass es mit der programmatischen Aufstellung bis zur Bundestagswahl 2013 nicht mehr klappt? Kein Bisschen. „Das ist hier eben so“, sagt ein parteitagserfahrener Pirat, „wir haben ja keine Eile“.