Hartz IV Der Einfluss der Sozialverbände auf die Politik

Parteien und Gewerkschaften mögen die Mitglieder weglaufen, zu den Sozialverbänden strömen sie in Scharen. WirtschaftsWoche-Reporterin Cornelia Schmergal über den wachsenden Einfluss einer stillen Macht.

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An Schlaf ist nicht mehr zu denken, schon seit Wochen nicht. Seit jenem Dienstag, als das Bundesverfassungsgericht die Hartz-Reformen einkassierte, ist Ulrich Schneiders Leben etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Zumindest was die Bettruhe angeht.

Das Buch-Manuskript über die Hartz-Reformen, das er im Mai abgeben muss, schreibt er jetzt vorzugsweise nachts. Tagsüber quillt sein Terminkalender über von Gesprächen mit Abgeordneten und Journalisten. Wenn er mit seinen Kindern Englisch-Vokabeln üben will, dann macht er das am Telefon, weil er vielleicht erst nach Hause kommt, wenn der Nachwuchs schon schläft. Vom Vokabelheft hat er eine Kopie gemacht und sie in seinem Büro deponiert. Sicherheitshalber.

Als Hauptgeschäftsführer steuert Ulrich Schneider den Paritätischen Wohlfahrtsverband in Berlin. So steht es auf seiner Visitenkarte. Aber vermutlich wird man dem Mann mit dem markanten Backenbart eher gerecht, wenn man sagt, dass er Deutschlands bekanntester Hartz-Lobbyist ist. Und der einflussreichste.

Wie viel Sozialstaat soll künftig sein?

Ulrich Schneider war der Erste, der aufdeckte, wie sich die Bundesregierung die Höhe der Hartz-IV-Sätze zurechtbog. Ohne die Studien seines Verbandes hätte es das Karlsruher Urteil vielleicht nie gegeben. Ohne ihn würde die Regierung vielleicht nicht streiten, ob sie die Stütze erhöhen will oder nicht. Und ohne ihn hätte FDP-Chef Guido Westerwelle vielleicht nie über "spätrömische Dekadenz" gespottet und eine Debatte entfacht, die sogar die Koalition spaltet.

Wie viel Sozialstaat soll künftig sein? Wie viel Hartz IV ist nötig, um ein menschenwürdiges Leben zu führen, und wie viel ist zu viel, weil es den Willen lähmen könnte, eine Arbeit aufzunehmen? Sollten die Jobcenter Gutscheine ausgeben oder doch besser Bares? Was in Berlin debattiert wird, trifft das Innerste des Sozialstaates. An Tagen wie diesen haben die Hartz-Lobbyisten Hochkonjunktur.

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband schreibt nun an einer neuen Studie, um zu beweisen, dass das Lohnabstandsgebot eingehalten werden kann, auch wenn die Regelsätze steigen. Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, traf sich am vergangenen Dienstag mit der Kanzlerin zum Kaffee, um den Sozialstaat zu verteidigen. Und Adolf Bauer, Chef der Konkurrenz vom Sozialverband Deutschland (SoVD), lässt von seinen Haus-Juristen prüfen, ob man gegen die neuen Sonderbedarfslisten des Bundesarbeitsministeriums notfalls nicht einfach wieder klagen könnte.

Dutzende von Wohlfahrts- und Sozialverbänden nehmen für sich in Anspruch, die Schwächsten in der Gesellschaft zu vertreten. Ihr Spektrum ist bunt. Allein im Paritätischen Wohlfahrtsverband versammeln sich 10 000 Vereine und Selbsthilfegruppen – von A wie Arbeitskreis der Opferhilfe bis Z wie ZNS Hannelore Kohl Stiftung. Es gibt parteinahe Organisationen wie die sozialdemokratisch geprägte Arbeiterwohlfahrt, kirchentreue wie Diakonie oder Caritas und Rentnervereinigungen wie den VdK. Gemeinsam organisieren sie zig Millionen.

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