
Mit dem Armutsforscher Christoph Butterwegge schicken die Linken einen Hartz-IV-Kritiker ins Rennen um das Bundespräsidentenamt. Der Kölner Politikwissenschaftler erhielt am Montag ein einstimmiges Votum in Fraktion und geschäftsführendem Parteivorstand, wie Fraktionschef Dietmar Bartsch in Berlin mitteilte. Der 65-Jährige tritt somit gegen den Außenminister und Koalitionskandidaten Frank-Walter Steinmeier (SPD) an, der als Kanzleramtschef maßgeblich an der Einführung von Hartz IV beteiligt war.
Der Nachfolger von Präsident Joachim Gauck wird am 12. Februar in der Bundesversammlung gewählt. Butterwegge gilt als chancenlos.
Er vertrete eine andere sozialpolitische Linie als Steinmeier, sagte Butterwegge. „Die Hartz-Gesetze haben unser Land nicht gerechter gemacht.“ Aus der SPD war der parteilose Kandidat aus Protest gegen die Agenda 2010 ausgetreten.
Zehn Jahre Hartz IV: Arbeitslosigkeit damals und heute
Rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland - das sind 6,3 Prozent - sind heute arbeitslos (Stand: Oktober 2014). Vor zehn Jahren war noch jeder Zehnte (10,1 Prozent) ohne Job, 4,4 Millionen Menschen hatten keine Arbeit (Stand: Oktober 2004). Im darauffolgenden Jahr erreichte die Arbeitslosigkeit mit rund fünf Millionen Arbeitslosen ihren Spitzenwert seit der Wiedervereinigung. Im Wesentlichen hing diese Entwicklung mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen („Hartz-IV-Effekt“).
Den Zahlen nach zu urteilen haben Frauen heute wie damals kein größeres Risiko als Männer, arbeitslos zu werden. Der tatsächliche Anteil arbeitsloser Frauen dürfte dennoch höher liegen: Statistiker vermuten, dass insbesondere unter Frauen die stille Reserve höher liegt, weil viele keine Vermittlungschancen mehr sehen.
Im Jahresmittel 2004 betrug die Arbeitslosigkeit im Westen 8,5 Prozent, im Osten war sie mit über 18 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Der Abstand hat sich inzwischen merklich verringert, ist aber weiterhin groß: Im Westen liegt die Quote heute bei etwa sechs Prozent, im Osten bei etwa zehn Prozent. Während das Potenzial an Menschen, die einer Arbeit nachgehen können, in Gesamtdeutschland stieg, sank es im Osten leicht.
Der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren ist in den vergangenen zehn Jahren zwar zurückgegangen. 2005 waren in dieser Altersgruppe noch knapp 15 Prozent arbeitslos, heute hat sich die Zahl mehr als halbiert. Ein Grund zum Jubeln ist das aber nur bedingt: Schließlich sinkt aus demografischen Gründen seit Jahren die Zahl der jungen Erwachsenen insgesamt. Die Arbeitslosenquote der Unter-25-Jährigen liegt seit zehn Jahren konstant etwa drei Prozentpunkte über der Gesamtquote.
In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil der 55- bis 64-Jährigen an der Gesamtarbeitslosigkeit von 25 auf über 33 Prozent. In absoluten Zahlen waren aber weniger Ältere arbeitslos. Denn auch hier spielt die demografische Entwicklung eine Rolle. 2005 waren gut 15 Millionen Menschen zwischen 50 und 64 Jahre alt, 2015 werden es bereits über 18 Millionen sein. In dieser Gruppe hat sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2005 um knapp zehn Prozentpunkte erhöht, denn die Zahl der arbeitenden Älteren ist auf knapp 9 Millionen angestiegen.
Die bei der Bundesarbeitsagentur gemeldeten offenen Stellen sind in den vergangenen zehn Jahren mehr geworden - mit einem deutlichen Knick zur Finanzkrise 2009. Im Jahr 2005 waren 256.000 Stellen als offen gemeldet, 2013 waren es 434.000. Seit 2012 ist die Zahl der offenen Stellen wieder rückläufig.
Ihm komme es darauf an, auf die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich hinzuweisen, aus der politische Zerrissenheit resultiere, sagte der Wissenschaftler und Buchautor. Ihr wolle er eine „Agenda der Solidarität“ entgegensetzen.
Co-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht sagte, ohne Alternative wäre die Bundespräsidentenwahl in der Bundesversammlung einer Farce. „Wir haben da jetzt ein bisschen frische Luft reingebracht.“
Parteichefin Katja Kipping sagte, der Schritt richte sich gegen das „neoliberale Weiter-So“. Co-Parteichef Bernd Riexinger sagte, die soziale Spaltung im Land sei auch „Nährboden für die Rechten und Rechtspopulisten“.
Der Poker ums Amt des Bundespräsidenten
Der Außenminister bekommt viel Zustimmung von Prominenten und zum Teil auch aus der Opposition. Gabriel dürfte kaum noch von ihm abrücken können, ohne Steinmeier oder sich selbst zu beschädigen. Dass die Union den populären Sozialdemokraten mitträgt, gilt als unwahrscheinlich, aber nicht als ausgeschlossen. Linksparteichefin Katja Kipping lehnte Steinmeier jüngst als Bundespräsidenten ab und kündigte einen eigenen Kandidaten an. Das dürfte dessen Chancen in den ersten beiden Wahlgängen nicht vergrößert haben.
Die Kanzlerin und Seehofer wollen dem Vernehmen nach zunächst hören, wie Gabriel auf die Personalvorschläge reagiert, die Merkel ihm am Sonntag als Alternative zu Steinmeier unterbreitet hat. In der Union wird damit gerechnet, dass Gabriel an Steinmeier festhält. Dann könnte die Dreierrunde ähnlich rasch vorüber sein wie am Sonntag. Gabriel würde das Kanzleramt verlassen, die Unions-Granden weiter über einen eigenen Kandidaten beraten.
Ja. Sollte Gabriel auf Steinmeier beharren, könnten Merkel und Seehofer erklären, man wolle eine Kandidatin oder einen Kandidaten präsentieren, die oder der von weiten Teilen der Grünen, der FDP und anderen Mitgliedern der Bundesversammlung wählbar sei. Die Kalkulation: Steinmeier würde sich nicht auf eine derart wackelige Wahl einlassen - Gabriel könnte bereit sein, einen Kompromisskandidaten mitzutragen.
Merkel, so heißt es in der Union, will nach der Bundespräsidentenwahl zu Beginn des Bundestagswahljahres auf keinen Fall als Verliererin dastehen. Ob sie allerdings tatsächlich eine erfolgversprechende Kandidatin oder einen Kandidaten präsentieren kann, ist offen.
Als unwahrscheinlich wurde in der Koalition eine erneute Vertagung der Sondierungen über einen Konsenskandidaten gehalten. Stattdessen hieß es, auch eine längere Runde sei denkbar, in deren Verlauf es auf jeder Seite weitere Absprachen mit den eigenen Reihen geben könnte.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann brachte sich unmittelbar vor dem Treffen quasi selbst ins Spiel. „Wenn man mich dann ruft - der Ruf wird aber ziemlich sicher gar nicht kommen - dann muss ich mir das reiflich überlegen“, sagte er im SWR-Fernsehen. Kretschmann hatte sich zuletzt sogar dafür ausgesprochen, dass Merkel Kanzlerin bleibt. Er gilt schon länger als möglicher Kandidat, sagte aber auch im SWR: „Ich bin gerne Ministerpräsident von Baden-Württemberg.“
Unwahrscheinlich - aber nicht völlig ausgeschlossen. In der CSU heißt es zwar, es sei eine Selbstverständlichkeit, dass die Union als größte Gruppe in der Bundesversammlung einen Kandidaten mit einem schwarzen Parteibuch ins Rennen schickt. Alles andere sei den eigenen Reihen kaum zu vermitteln. Doch ausgeschlossen werden könne eigentlich gar nichts, hieß es zugleich in den Reihen der Unionsschwestern.
Wohl nicht. In der SPD wird es für möglich gehalten, dass CDU und CSU sich dafür entscheiden, eine Frau als eigene Kandidatin gegen Steinmeier ins Rennen zu schicken, sollte Gabriel auf Steinmeier beharren. Auch in der Union hieß es, spätestens Anfang kommender Woche solle eine Entscheidung gefallen sein. Wenn nicht mit der SPD, dann eben für einen eigenen Kandidaten von CDU und CSU.
Butterwegge kündigte an, in den kommenden Monaten auch auf die problematische Reichtumskonzentration im Land hinweisen zu wollen. Sein Engagement mit Auftritten wird sich nach seinen Angaben aber in Grenzen halten. „Ich werde aufgrund der Tatsache, dass ich einen einjährigen Sohn habe und eine achtjährige Tochter, schon aufgrund meiner familiären Situation, nicht die ganze Bundesrepublik bereisen können.“
Außenpolitisch sprach sich Butterwegge für ein kollektives Sicherheitssystem aus, in dessen Rahmen es möglich sein solle, die Nato aufzulösen. „Die Nato ist für mich ein Relikt des Kalten Krieges.“
Schon 2012 wollte die Linkspartei Butterwegge als Kandidaten gewinnen. Damals war der Wissenschaftler aber kurzfristig abgesprungen, weil die Partei noch zwei weitere Namen nannte. Die Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld war schließlich damals für die Linken gegen Joachim Gauck angetreten. 2010 hatte die Linke die Fernsehjournalistin Luc Jochimsen und 2009 den als „Tatort“-Kommissar bekannten Schauspieler Peter Sodann ins Rennen um das Bundespräsidentenamt geschickt.