Hartz IV Wenn Faulheit sich lohnt

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Grafik: Hartz-IV-Empfänger in Deutschland und Berlin im Vergleich (Klicken Sie auf die Grafik für eine erweiterte Auswahl)

Der interessanteste Satz des Interviews ging in der pawlowschen Aufregung über die Lage, Rechte und Pflichten von Armen, Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern beinahe unter: nämlich das Eingeständnis Kochs, die Politik könne, werde und wolle künftig nicht mehr dafür sorgen, dass der, der arbeitet, am Ende des Tages mehr Geld zur Verfügung hat als der, der nicht arbeitet. „Das Lohnabstandsgebot kann nicht befriedigend erfüllt werden“, so Koch lapidar – ein Satz, mit dem er genau die „Leistung“ zu Grabe trägt, die sich angeblich wieder lohnen sollte. Im Grunde gesteht Koch damit das Scheitern einer parteiübergreifenden Politik ein, die in den vergangenen Jahren aus guten Gründen des internationalen Wettbewerbs den Niedriglohnsektor erschlossen hat – ohne jedoch zugleich dafür zu sorgen, dass die, die in ihm beschäftigt sind, durch ausreichend Anreize gegen jene verteidigt werden, die sich ihm verweigern.

Fleißge benötigen mehr Zuwendung des Staates

Das Signal, das Roland Koch an Niedriglöhner, Aufstocker, Hinzuverdiener und an die große Mehrheit der Arbeitslosen aussendet, die arbeiten wollen, ist verheerend: Hört zu, es ist, wie es ist – der Erfolg eurer Bemühungen wird sich finanziell nicht lohnen, aber wenn ihr euch trotzdem nicht weiter bemüht, müsst ihr Stiefmütterchen pflanzen, Graffiti beseitigen oder mit Sanktionen rechnen. Wenn man dem Koch-Vorstoß also überhaupt einen Sinn abgewinnen will, dann den, dass er nach einer neuen Diskussion über das Lohnabstandsgebot verlangt, über die Schnittstelle zwischen Sozialleistungen und Marktlöhnen – und über den Bruch, der im Hartz-IV-System Arbeitsuchende und Leistungsbetrüger trennt. Sollte das Bundesverfassungsgericht, wie erwartet, die Regierung im Februar auffordern, die Sozialleistungen heraufzusetzen, um Arbeitslosen mehr „gesellschaftliche Teilhabe“ zu ermöglichen, spitzt sich diese Debatte dramatisch zu: Die Zahl derer, die Vollzeit arbeiten und dennoch Leistungen aus der Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen (334.000), wird sprunghaft steigen.

Der Politik fällt daher die Aufgabe zu, beides zugleich deutlich zu machen: dass Fleißige mehr Geld und Zuwendung des Staates verdienen – und Faule seine Härte und Sanktionsbereitschaft. Insofern hat Koch recht, wenn er beide Gruppen akzentuiert: Einerseits die, „die durch die Unbilden des Lebens, völlig ohne eigene Schuld, in Not geraten sind. Denen möchte man Hartz IV eigentlich nicht zumuten“. Und andererseits die, „die mit dem System spielen und Nischen ausnutzen“.

Berliner Hartz-IV-Zahlen sind erschütternd

In Berlin treffen beide Gruppen frontal aufeinander; hier ist die Arbeitslosigkeit mit 21,6 Prozent (offen und verdeckt) genauso hoch wie die Chance auf ein leistungsloses Einkommen. Die nackten Zahlen sind erschütternd: Jeder sechste Berliner erhält Geld aus dem Hartz-IV-Topf, jeder fünfte eine Form von Transferleistung, jedes dritte Kind wächst in Familien auf, die Arbeitslosengeld II beziehen. 285 Millionen Euro wendet die Stadt monatlich auf, um die 590.000 Mitglieder umfassende Hartz-Gemeinde zu versorgen, die von 5500 Mitarbeitern in Jobcentern betreut und verwaltet wird. Vier von fünf Berlinern verweilen länger als zwölf Monate im Leistungsbezug; drei von vier leben in Bezirken wie in Nord-Neukölln unterhalb der Armutsgrenze (700 Euro), zwei von drei Heranwachsenden unter 25 Jahre beziehen dort Stütze.

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