Hartz IV Wenn Faulheit sich lohnt

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Wie hoch der Anteil derer ist, die nicht ernsthaft an der Vermittlung einer Arbeit interessiert sind und Leistungen der Grundsicherung im Schatten der großstädtischen Anonymität ausnutzen, lässt sich schwer sagen. Die bundesweite Sanktionsquote liegt bei 2,6 Prozent. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (ehemals SPD) sprach einmal von 20 Prozent. Ein Mitarbeiter in einem Berliner Jobcenter, hält 60 Prozent in Berlin für „keineswegs übertrieben“. Natürlich möchte er seinen Namen nicht veröffentlicht wissen. Aber schweigen darüber, was er mit seiner Kundschaft erlebt, möchte er auch nicht. Und schildert die gängigsten Betrügereien:

Schwarzarbeit: Der Kunde lässt sich als 400-Euro-Jobber einstellen, arbeitet aber in Wirklichkeit eine volle Schicht. Auf diese Weise kassiert er doppelt: sein Schwarzgeld und sein Hartz-IV-Gehalt.Mietbetrug I: Ein Paar gibt vor, sich zu trennen, erhebt Anspruch auf je eine Wohnung. In Wirklichkeit leben beide weiterhin zusammen – und vermieten die andere Wohnung, etwa als Feriendomizil.Mietbetrug II: Die bar ausbezahlten Mieten werden nicht an den Vermieter weitergereicht; nach der Zwangsräumung ist die Begleichung der angehäuften Mietschulden unzumutbar.Armrechnen: Selbstständige mit einem Einkommen jenseits der 50.000 Euro rechnen sich steuerlich arm und erheben Anspruch auf Grundsicherung.Krankschreibung: Ausländische Hartz-IV-Bezieher lassen sich während der Sommermonate in ihrer Heimat krankschreiben, beziehen ihre Grundsicherung – und melden sich nach zwei Monaten wieder gesund zurück.

Frustrierte Jobcenter-Mitarbeiter

Die Frustration der Mitarbeiter ist angesichts ihres schmalen Gehalts und der täglichen Begegnung mit dem Leistungsmissbrauch hoch. Jeder dritte Angestellte in Berlin hat nur einen Zeitvertrag; die meisten Zuarbeiter verdienen gerade mal 1500 Euro – „nicht wenige sind daher Mitarbeiter und Kunde der Jobcenter zugleich“. Klar, „dass es da einem manchmal in den Fingern juckt, den besonders Frechen das Geld für die Klassenfahrt zu versagen, die man den eigenen Kindern am Vorabend ausreden musste. Aber was hilft’s? Die haben einen Anspruch darauf und fordern ihn ein.“ Besonders dreist geht es in der Leistungsabteilung zu; dort werden wir „mindestens einmal die Woche beschimpft und bedroht, wenn wir nicht gleich das Geld rüberreichen“. Umso nervtötender sei es, permanent damit beschäftigt zu sein, Regelsätze, Mieten, Umzüge und Mehrbedarfe für Alleinerziehende durchzuwinken, einmalige Sachleistungen für den Wohnungserstbezug, das Baby und die Schwangerschaft, dazu Klassenfahrten, Sozialtickets, die Befreiung von GEZ-Gebühren... – „und am Wochenende sieht man sie alle im Hallenbad, in dem sie sich zum ermäßigten Preis tummeln, während man selbst das doppelte Geld hinlegen muss“.

Sanktionen sind kaum durchsetzbar

Noch größer wird die Frustration dadurch, dass die Mitarbeiter der Jobcenter Sanktionen, also „das einzige Mittel, dass wir zur Verfügung haben, um Kunden überhaupt noch klarzumachen, dass sie auch so was wie Pflichten haben“, praktisch nicht umsetzbar sind. Die formalen Erfordernisse sind zu hoch, die Fachkenntnisse der eilig eingearbeiteten Angestellten zu niedrig. Jede Sanktion löst eine Lawine von Anhörungen, Bescheiden, Widersprüchen und Klagen aus, „die wir einfach nicht bewältigen können“. Oft schleichen sich Fehler ein, weil Mitarbeiter im Sozialparagrafendschungel eine neue Durchführungsvorschrift übersehen haben. Hinzu kommt, dass rund um die Jobcenter eine regelrechte Rechtsindustrie entstanden ist: Anwälte, die sich bei der BA eingemietet haben, erbieten sich nur zu gern, jeden Sanktionsbescheid anzufechten. Im Jahre 2008 waren vier von zehn Widersprüchen gegen Sanktionen ganz oder teilweise erfolgreich – und zwei von drei Klagen. Erreicht eine Sanktion dennoch die Leistungsabteilung, muss sie binnen zwei Monaten fehlerfrei umgesetzt sein – kein Kinderspiel, weil einige Sanktionen zum Teil durch Sachleistungen kompensiert werden. „Die Zahl der Verordnungen, Ausnahmen und Gesetzesauslegungen ist schlicht unübersehbar. Die Folge ist, dass ein Viertel der rechtlich durchgesetzten Sanktionen am Ende nicht durchgesetzt werden: „Wir schaffen es einfach nicht.“

Kochs Forderung, den Kampf gegen die Arbeitsunwilligkeit aufzunehmen, halten sie in den Jobcentern für völlig abwegig: „Wir haben den Kleinkrieg längst verloren.“ Hartz IV sei ein erster Schritt gewesen, ein kleiner Erfolg, nicht mehr. Die Zahl der erwerbsfähig Hilfebedürftigen ist seit 2006 bundesweit um zehn Prozent zurückgegangen – „schön und gut, aber hat jemand schon mal die Kosten des fortgesetzten Missbrauchs und der Rechtsindustrie eingerechnet?“. Höchste Zeit also für eine Generalrevision von Hartz IV. Für eine entschiedene Lösung der Niedriglohnfrage. Und für ein Nachdenken über das Bürgergeld, wie es FDP und Grüne vorschlagen.

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