Anfang des Jahres 2010 erlebte Berlin einen ziemlich strengen Winter. Über mehrere Wochen krochen die Temperaturen nicht über die Nulllinie, der Schnee fiel und fiel, bis die Hauptstadt unter einer buchdeckeldicken Packeisschicht zu erfrieren drohte. Die Stadtreinigung kam irgendwann mit dem Streuen nicht mehr hinterher, die Notaufnahmen der Kliniken füllten sich. Irgendwann verging kein Tag mehr, an dem nicht aus irgendeiner Boulevardzeitung ein Rentner mit gebrochenen Knochen Anklage gegen die unfähige Verwaltung erhob.
Wer wird Wowereits Nachfolger?
Berlins Regierungschef Klaus Wowereit will am 11. Dezember, knapp zwei Jahre vor Ablauf seiner dritten Amtszeit, zurücktreten. Die Berliner SPD sucht einen Nachfolger - und tut sich damit schwer. Die rund 17 200 Parteimitglieder dürfen entscheiden, wen die Partei als künftigen Regierenden Bürgermeister nominiert, der sich dann auch mit dem Pannenflughafen Schönefeld herumschlagen darf.
Der 41-Jährige ist Landeschef der Berliner SPD. Er inszeniert sich als Intellektueller, ein wenig schon jetzt als Regierungschef. Sein Leitsatz: „Mut zur Veränderung“. Als Einziger legte Stöß ein Programm vor: Mit einem milliardenschweren „Zukunftsinvestitionsprogramm“ in die öffentliche Infrastruktur und Personal verspricht er wesentlich mehr als die anderen. Unklar bleibt, wie er das finanzieren will. Stöß will die SPD mehr nach links rücken. Erfahrung im Parlament hat der kurzzeitige Stadtrat nicht. Für den Wahlkampf ließ sich der promovierte Verwaltungsrichter beurlauben.
Wowereits ehemaliger Kronprinz Michael Müller, 49, will an die Arbeit des Noch-Regierenden anknüpfen. „Ich lasse mir unsere Erfolge nicht kleinreden“, sagt er. Dick auftragen ist dabei nicht seine Art. Er betont stattdessen die Erfahrung von mehr als zehn Jahren als SPD-Partei- und Fraktionschef und drei Jahren als Senator. Oft wurde ihm Blässe nachgesagt - das münzt Müller jetzt in Verlässlichkeit um. „Regieren muss man auch können“, sagte er leicht süffisant in Richtung der weniger erfahrenen Konkurrenz. Selbstkritisch gibt er zu, beim Glamourfaktor „noch Luft nach oben“ zu haben.
Fraktionschef Raed Saleh spielt die Migrantenkarte und setzt auf Emotionen. Er sei ein „waschechter Berliner“, versichert der gebürtige Palästinenser, der als Fünfjähriger in die Stadt kam. Saleh will der erste deutsche Ministerpräsident mit ausländischen Wurzeln werden und Wowereits Erfolgsgeschichte von der weltoffenen Metropole weiterschreiben. Sozialer Aufstieg und Bildung sind Salehs Themen. Dabei scheut er sich auch nicht, in Debatten die Ratschläge seiner Grundschullehrerin und seines bereits gestorbenen Vaters zu beschwören: „Arbeite hart, Raed!“ Und: „Achte die deutschen Gesetze!“.
Und Klaus Wowereit, der Bürgermeister? Dem fiel zu der Frage, ob nicht das Technische Hilfswerk angesichts der Not den Eisbrecher spielen sollte, folgender mitfühlender Satz ein: „Wir sind doch nicht in Haiti.“
Vielleicht war das der Anfang vom Ende. Der Moment, in dem selbst die üblicherweise hart gesottenen Berliner von der grinsenden Kodderschnauze im Roten Rathaus am Alexanderplatz nicht mehr amüsiert waren, sondern nur noch genervt. Berlin war natürlich nicht Haiti. Aber Klaus Wowereits Politik bekam irgendwann in ihrer ackselzuckenden Nonchalance selbst zu viel haitihaftes. Und vom Problem-BER ahnte damals noch nicht mal jemand was.
Nun ist bald Schluss. Am 11. Dezember soll das Abgeordnetenhaus einen neuen „Regierenden“ wählen, wie die Berliner sagen. Drei SPD-Männer wollen es werden: Der Landesvorsitzende Jan Stöß, von Beruf Verwaltungsrichter, Motto: „Arm ist nicht sexy“; der Stadtentwicklungssenator Michael Müller, gelernter Drucker, und der Fraktionschef Raed Saleh – der als Fünfjähriger als Flüchtlingskind aus dem Westjordanland nach Berlin kam. Drei Kandidaten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die SPD-Mitglieder entscheiden per Briefwahl bis zum morgigen Samstag, wen sie nun als Wowereit-Nachfolger wollen.
Über den scheidenden Amtsinhaber lässt sich zu diesem Anlass auch einiges Gutes und manch Schlechtes sagen, vor allem aber dies: Er hat seinem Nachfolger genügend unerledigte Hausaufgaben übrig gelassen.
Aber zunächst: Es gibt durchaus eine Menge Positives über die Entwicklung Berlins zu sagen. Seit 2005 etwa ist kein anderes Bundesland so stark gewachsen, um fast 19 Prozent nämlich, auch 2013 war die Stadt deutscher Wachstumsmeister unter allen 16 Bundesländern, vor Bayern oder Baden-Württemberg. Von niedrigem Niveau aus selbstverständlich, aber ein Ausrufezeichen ist das schon.
Leider sehen andere Zeugnisse weitaus weniger rosig aus: Die Wirtschaftsleistung pro Kopf (rund 30.600 Euro) rangiert heute immer noch fast zehn Prozent unter dem Durchschnitt der Länder, bei der öffentlichen Verschuldung liegt Berlin auch nach vielen Sparrunden nur auf Platz 15. Beim Bildungssystem attestierte ein Ranking des Instituts der deutschen Wirtschaft der Metropole jüngst sogar ein totales Schul-Versagen. Nur die Universitäten haben Niveau. Nicht zu vergessen sind die Milliardenlasten für Hartz-IV-Leistungen, die schwer auf den Haushalt drücken.
Berlin - Stadt der Unterschiede
Berlin ist deshalb immer noch geteilt. Nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen aufstrebenden Vierteln und abschmierenden Quartieren. Zwischen hoch qualifizierten Neu-Berlinern, Studenten, und Gründern, für die Berlin gerade der heißeste Fleck Europas ist, wenn nicht der Welt. Und perspektivlosen Langzeit-Joblosen und Problemschülern, für die das Berliner Schulsystem keine Verheißung ist, sondern Versagen bedeutet. Die Mauer ist weg, nur in den Lebensläufen steht sie noch.
Wenn der künftige Regierungschef das Wort Chancengerechtigkeit ernst nehmen will, muss er mehr Geld ausgeben: für Lehrer, mehr Förderunterricht und Sonderpädagogen und gute Schulgebäude. Und deshalb muss die Stadt, die auf eine so stolze Industrietradition zurückblicken kann (Siemens! Borsig!), aber heute nach Jahrzehnten der deutschen Teilung keine nennenswerte Industrie mehr besitzt, alles tun, um die Gründerszene florieren zu lassen. Boomender Tourismus und der Mikrokosmos Bundespolitik (plus Lobby, Medien und Verbände) werden alleine sicher nicht reichen, um genügend Mittel für den Etat zu mobilisieren.
Junge Unternehmen wie Zalando oder Rocket, 6Wunderkinder oder Soundcloud mögen alle noch mehr ein Versprechen als ökonomische Substanz darstellen. Aber jeder Berliner Bürgermeister sollte trotzdem für diese Arbeitgeber und ihre globale Ausstrahlung jeden Tag eine Kerze anzünden, Termine im Kalender reservieren sowieso. Rund 60.000 Beschäftigte, alleine 18.000 in den vergangenen fünf Jahren gehen auf das Konto der wachsenden Internetwirtschaft, sie steht mittlerweile für fast vier Milliarden Euro Wertschöpfung in Berlin. Eine McKinsey-Studie beziffert das Arbeitsplatzpotenzial bis 2020 auf weitere 100.000 Jobs.
„Gelingt es, die wirtschaftlichen Potenziale der Stadt weiter auszuschöpfen, könnte die Wirtschaftsleistung Berlins 2020 den Bundesdurchschnitt erreichen“, heißt es optimistisch bei der Berliner Industrie- und Handelskammer. Die Wünsche: Eine moderne Verwaltung und Stadtentwicklungspolitik, die den Wandel nicht erduldet oder stranguliert (Mietpreisbremse), sondern klüger managt. Kaum eine Weltmetropole hat noch so viel Platz und Raum wie Berlin, der künftige Bürgermeister muss ihn nur bestmöglich nutzen.
Bleibt ein dunkler Fleck. Der liegt noch nicht einmal auf Berliner, sondern auf Brandenburger Boden. Aber was macht das schon? Der Airport BER ist nicht nur zur Lachnummer verkommen, vor allem ist er einfach überfällig. Noch mögen die Flughäfen Tegel und Schönefeld leidlich funktionieren, sie müssen es auch. Aber eine Stadt, die glaubt, sich für Olympische Spiele bewerben zu können, braucht einen leistungsfähigen Großstadt-Flughafen, der die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts erfüllt.
Klaus Wowereit – wohlgemerkt: als Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafengesellschaft – witzelte noch ein paar Wochen, bevor die große Eröffnung 2012 hektisch abgesagt werden musste, über den Starttermin. Der BER werde wie geplant eröffnen – das sei „schließlich so beschlossen“. Großes Gelächter.
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