Heimat-Debatte Wie das Dorf gedeihen kann

Die Jamaika-Parteien wollen das Land aufpäppeln. Doch die Frage ist: Wie? Zu Besuch in zwei Dörfern, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – und genau wissen, wie die Politik jetzt helfen kann.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Landlust statt Landflucht: Die hessische Kleinstadt Wanfried stemmt sich gegen die Abwanderung vom Land. Quelle: Diana Wetzestein

Um Gessin vor dem Tod zu retten, steuert Bernd Kleist an einem sonnigen Herbsttag den schweren, gelben Bagger eines Nachbarn über seinen Hof in Mecklenburg. Sein Ziel ist das Dorfhaus, das Herz des Örtchens. Hier soll ein Turnraum entstehen. Für den nötigen Anbau muss Kleist erst Platz schaffen und Erde wegbaggern. Kleist, ein 59-jähriger Mann mit ruhiger Stimme und weißem Bart, hat sich entschieden, für sein Dorf Gessin zu kämpfen. Er will nicht einfach dem schleichenden Abstieg beiwohnen. Der neue Turnraum ist die nächste Runde in diesem Ringen. Und der Bagger sein Partner.

Um Wanfried vor dem langsamen Ausbluten zu bewahren, lotst Jürgen Rödiger eine Handvoll Fremder durch seine hessische Heimatstadt. Der pensionierte Elektroingenieur hat bereits Hunderten vor ihnen die alten Fachwerkhäuser gezeigt, ihnen erklärt, welche Sanierungen nötig wären, welche Baustoffe sie am besten verwenden sollten, kurzum: wie aus den verfallenden Häusern eine neue Heimat werden könnte.

Ihre neue Heimat. Auch der 66-jährige Rödiger hat sich entschlossen, für seine Stadt zu kämpfen. Die erste Blutung hat er inzwischen gestoppt.

Gessin und Wanfried: mehr als fünf Autostunden trennen das Mecklenburger Bauern-Dorf mit seinen 60 Seelen von der 4.200-Einwohner-Kleinstadt am östlichen Rande Nordhessens. Und doch ringen die Menschen hier wie dort mit dem gleichen Problem: Deutschland spaltet sich. Nicht mehr einfach in Ost und West, sondern in boomende Städte und aussterbende Dörfer. In Regionen, die ökonomisch aufblühen und in Landstriche, in denen die Wirtschaft austrocknet. Wo die einen freie Auswahl an Fachärzten genießen, die Einkaufsstraßen voller Geschäfte sind, kämpfen andere mit Funklöchern, ramponierten Straßen und unregelmäßigem Busverkehr.

Die Landflucht, das Darben der Provinz ist kein neues Phänomen, doch nun haben die Jamaika-Parteien in Berlin das Thema für sich entdeckt. Es dient als kleinster gemeinsamer Nenner, um ihrer künftigen Koalition einen Sinn, eine Überschrift zu geben. Befördert durch den Erfolg der AfD wollen plötzlich alle ran an die Probleme und die Perspektivlosigkeit auf dem Land. Die Kanzlerin fordert Hilfe für Abwanderungsregionen, die Grünen philosophieren über den Heimat-Begriff und die FDP verkündet, Deutschlands Stärke liege in seiner regionalen Vielfalt.

Die Abwanderung der Jungen lässt ländliche Regionen veröden und führt zu Wohnungsnot in den Zentren. Eine Studie macht der Politik schwere Vorwürfe.
von Cordula Tutt

Doch nach der Eintracht bei der Diagnose hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. CDU-Vizechefin Julia Klöckner plädiert im Interview mit der WirtschaftsWoche für ein Heimat-Ministerium nach Vorbild Bayerns. Die Grünen fordern dezentrale Gesundheitszentren. Die FDP will voll auf Digitalisierung setzen. Was genau den ländlichen Raum retten soll – beim näheren Hinsehen ist das gar nicht mehr so klar.

Natürlich, Geld wollen alle investieren, womöglich gar Milliarden, alleine in den Ausbau der Glasfaser- und Funknetze. Genau solche Großprojekte allerdings haben in der Vergangenheit jede Menge Geld verschlungen, wenn dem politischen Willen zur Förderung kein durchdachter Plan folgte. Ob überdimensionierte Abwasserleitungen, verwaiste Gewerbegebiete oder trostlose Neubaugebiete bei gleichzeitigem Leerstand im Ortskern: Viele Kommunen zahlen bis heute für ihre hyperaktiven Fehlinvestitionen drauf.

Wer solche ökonomischen Desaster verhindern will und wen interessiert, mit welcher Hilfe Bürger am Land tatsächlich etwas anfangen können, muss die Berliner Politik-Blase verlassen und hinausfahren aufs Land. In Dörfer wie Gessin und Wanfried. Zu Menschen wie Jürgen Rödiger und Bernd Kleist.

Eigenregie statt Obrigkeit

In Gessin stellt Bernd Kleist den Motor des Baggers ab, klettert aus dem Fahrerhäuschen und schlendert Richtung Dorfhaus. Ein altes Gebäude, grün gestrichene Holztore, der Efeu rankt sich am roten Backstein entlang. Was heute die Keimzelle des Dorflebens ist, war früher ein ungenutzter Pferdestall. Nach und nach haben Kleist und die anderen Dörfler daraus eine Art Bürgerzentrum geformt. Es gibt hier Freitagskino, Yoga-Kurse und Männerabende. Jeden Tag findet ein Mittagstisch statt.

Bis heute ist Kleist selbst erstaunt, wie gut ihr Dorfprojekt funktioniert. Manchmal rätselt er, warum die Gessiner mit Tatendrang auf die wegbrechende Infrastruktur in ihrem Dorf reagiert haben, während andere Orte in der Region im Selbstmitleid versanken. Ein entscheidender Grund, glaubt Kleist, ist die Selbstverwaltung. Statt aufgepfropfte Pläne von oben auszuführen, entstand das Gessiner Dorfhaus in Eigenregie: ohne große staatliche Hilfe, getragen von einem gemeinnützigen Verein und finanziert durch ein jährliches Dorffest und private Spenden.

Über Jahre sei ihr Projekt behutsam gewachsen, erzählt Kleist. Jede neue Initiative erwuchs als konkrete Antwort auf das, was die Leute im Dorf tatsächlich benötigten. Zuerst gab es nur den Gemeinschaftsraum selbst, dann Fußballabende, einen Seniorentreff und Töpferkurse. Mittlerweile kommen alle zwei Wochen Friseure und Fußpfleger vorbei. Als nächstes soll nun der Turnraum entstehen und eine Senioren-WG einziehen. „Da steckt überall unser eigenes Geld und unsere eigene Arbeit drin“, sagt Kleist. „Wir sind doch gezwungen weiterzumachen.“

Worüber FDP und Grüne streiten werden

Manuel Slupina vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung beschäftigt sich seit Jahren mit Kleinstädten und Dörfern wie Wanfried und Gessin. Vor seinem Büro in Berlin-Charlottenburg hängen Deutschlandkarten an den Wänden mit bunt eingefärbten Regionen: rot für die Problemzonen am Land, grün für die florierenden Gebiete in der Stadt.

Slupina kann im Einzelfall detailliert erklären, warum junge Menschen dem Land den Rücken kehren, wie die verbliebenen Dorfbewohner Bürgerbusse organisieren und Generationen-WGs einrichten. Nur auf eine Frage kann Slupina bis heute keine befriedigende Antwort geben. Wie man diesen Trend grundsätzlich umkehren könne? „Keine Ahnung“, sagt er. Es werde immer mal wieder wachsende Dörfer geben, auch abseits der Großstädte. „Insgesamt aber werden viele Dörfer und Kleinstädte auf dem Land schrumpfen.“

In seiner Forschung konzentriert sich Slupina deswegen darauf, wie man diese Schrumpfung bremsen und gestalten kann. Wie man die Abwärtsspirale aus davonziehenden Landbewohnern, wegfallender Versorgung und noch größerer Abwanderung durchbricht.

Ein kompliziertes Vorhaben, denn oft treiben einzelne Bürgerinitiativen wie die in Gessin oder Wanfried die Erfolgsprojekte gegen Abwanderung voran. „Die Hürden für solche Initiativen sind jedes Mal extrem spezifisch“, sagt Slupina. Also benötige auch jedes Projekt, jeder Ort, jede Gemeinschaft passgenaue Unterstützung. Zu viel Politik kann da sogar kontraproduktiv sein.

Das Wanfrieder Erfolgsmodell

Im hessischen Wanfried verzichten sie mittlerweile komplett darauf, komplizierte Förderprogramme des Bundes zu beantragen. Jürgen Rödiger führt hier lieber eine Bürgergruppe aus Architekten, Ingenieuren und Restauratoren an, ohne die Hauptstadt um Hilfe zu bitten. Selbst ist das Dorf. Ihr Ziel: Käufer von außerhalb für ihre leerstehenden, aber charmanten Fachwerkhäuser zu finden, um so das Bröckeln ihrer Heimatstadt aufzuhalten. Dafür beraten sie potentielle Käufer – und packen auch selbst bei der Renovierung mit an. Es ist der Versuch, neue Bewohner in die Stadt zu locken und dem Wegzug von 100 Einwohnern pro Jahr etwas entgegenzusetzen.

Rödiger und seine Mitstreiter erinnern sich noch gut, wie sie vor ein paar Jahren noch 45.000 Euro Fördermittel vom Bundesbauministerium bekamen. Der Zweck: die Vermarktung ihres Fachwerkmusterhauses in der Altstadt. „Wir mussten ständig Anträge, Zwischenberichte, noch mehr Zwischenberichte und Endberichte schreiben“, erzählt Diana Wetzestein, die ebenfalls in der Bürgergruppe Wanfried aktiv ist. „Für jeden Stuhl, der im Fachwerkmusterhaus steht, haben wir eine DINA-4 Seite verfasst.“

Union, FDP und Grüne müssen viele Kompromisse schließen – allen voran bei den Themen Rente, Steuern, Europa und Verteidigung. Wie Lösungen aussehen könnten und was für wen nicht verhandelbar ist.
von Andreas Freytag

Wetzestein findet, dass eine kleine ehrenamtliche Initiative wie ihre den Aufwand, der mit solchen Förderprogrammen zusammenhänge, gar nicht leisten könne. „Besser wäre doch, wenn die Fördergeldgeber die Initiativen fragen, was sie brauchen und ihnen die Mittel dann gezielt zur Verfügung stellen“, sagt Wetzestein. Dann könne die Gruppe darüber frei verfügen und am Ende des Jahres berichten, was wofür ausgegeben wurde.

Dass die Wanfrieder mit ihrer Initiative trotzdem Erfolg haben, liegt auch an der engen Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister der Stadt. Der war bereits Mitglied der Bürgergruppe, als er vor zehn Jahren ins Amt gewählt wurde. Seitdem sichert er der Initiative unbürokratische Unterstützung durch die Stadtverwaltung. Genau das sei das Erfolgsgeheimnis ihres Projekts, glaubt Rödiger. Die Idee kam von den Bürgern – und die Stadtverwaltung hat unkompliziert geholfen.

Für das Städtchen hat sich diese Zusammenarbeit längst ausgezahlt. Der große Exodus wurde gestoppt. Es gibt weiterhin Ärzte, Einzelhandelsgeschäfte, Bankfilialen und Apotheken im Ort. Rödiger ist zufrieden, wenn er heute durch Wanfried spaziert. Alle paar Meter steht nun ein saniertes Fachwerkhaus, bunte Ornamente zieren manchen Holzbalken, in andere ist das Baujahr eingraviert. Insgesamt 55 Häuser haben Rödiger und sein Team bis heute vermittelt. Jedes für sich ein kleiner Wachstumskern. Anders als die Dörfer und Städte im Umkreis hat Wanfried zuletzt erstmals sogar wieder ein leichtes Bevölkerungsplus verzeichnet. Es geht, sieht Rödiger, wenn man denn will.

>
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%