Heinrich August Winkler

"Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte von Kämpfen"

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"Es ist kein Zufall, dass sich ausgerechnet dort eine antiwestliche Bewegung formiert hat"

Die Geschichte des Westens ist also eine Geschichte der Menschenrechte?

Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, repräsentative Demokratie, Volkssouveränität – dieses Ensemble bezeichnet den Kern des normativen Projekts des Westens. Die Geschichte des Westens seit der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 ist erstens eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung dieses normativen Projekts. Sie zieht sich bis zu den friedlichen Revolutionen von 1989 hin, soweit es um die Durchsetzung des Projekts innerhalb des Westens geht. Zweitens ist die Geschichte des Westens die Geschichte permanenter Verstöße gegen die eigenen Werte – von der Hinnahme von Sklavenhandel und Sklaverei über Kolonialismus und Imperialismus bis hin zum Rassismus. Drittens eine Geschichte der ständigen Selbstkritik und Selbstkorrektur – mit dem Ergebnis, dass aus dem normativen Projekt ein Prozess wurde, der bis heute nicht abgeschlossen ist.

Das Vokabular von Pegida

Warum fällt es vielen Deutschen derzeit so schwer, die westlichen Werte als Errungenschaft zu begreifen?

Deutschland hat sich bis 1945 gegen die politischen Konsequenzen der Aufklärung gewehrt. In Westdeutschland gelang die Öffnung zur politischen Kultur des Westens erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in der DDR erst nach 1989. Und es gab Teile der DDR, wo die Resistenz gegenüber westlichen Ideen mangels Zugang zum Westfernsehen besonders stark ausgeprägt war: das sogenannte „Tal der Ahnungslosen“. Das wirkt bis heute nach. Es ist kein Zufall, dass sich ausgerechnet dort eine zutiefst antiwestliche Bewegung formiert hat, die – ohne es zu wissen – anknüpft an Ressentiments und Vorbehalte der Deutschen gegenüber der westlichen Demokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts: an die Verherrlichung eines starken Staates und der deutschen Kultur der Innerlichkeit, die man dem Pluralismus und der angeblichen Oberflächlichkeit der westlichen Zivilisation entgegenhielt. An diese Denktradition, die ganz wesentlich zur Zerstörung der Weimarer Republik beigetragen hat, knüpfen die Initiatoren der Dresdner Demonstrationen an.

Ist der Westen sich fremd geworden?

Der Westen steht heute, anders als in der Zeit des Kalten Krieges, ohne einen Widersacher da, der ihn theoretisch herausfordert. Das gilt für die Volksrepublik China wie für das Russland Putins. Aus Homophobie, Antifeminismus und orthodoxem Klerikalismus ergibt sich noch keine intellektuell in sich schlüssige Infragestellung der westlichen Werte. Insofern lässt sich eine gewisse geistige Unterforderung der westlichen Demokratien nach der Epochenwende 1989/91 beobachten. Im Westen begannen daher viele zu glauben, dass unsere Errungenschaften sich gewissermaßen von selbst verstehen. Aber das tun sie eben nicht.

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