Helmut Kohl, die Machtmaschine – man darf nicht vergessen, dass es ihr in jungen Jahren nicht an inhaltlichen Antriebsstoffen fehlte. Kohl steigt in der rheinland-pfälzischen CDU als polternder, polemischer Modernisierer auf. Er glänzt durch politische Omnipräsenz im Stadtparlament von Ludwigshafen, im Vorstand der Landes-CDU und in der Landtagsfraktion und ist permanent damit beschäftigt, Mehrheiten für seine Positionen zu organisieren. 1966 erringt er den Parteivorsitz im Land, 1969 wird er Ministerpräsident, 1973 erobert er die Spitze der CDU. Kohl gibt sich bürgernah und diskussionsoffen und überzieht das Schlusslicht-Bundesland Rheinland-Pfalz mit Reformen. Er ordnet Regierungsbezirke neu und gründet Universitäten, beschleunigt den Strukturwandel und siedelt Industriebetriebe an, reformiert das Gefängniswesen und öffnet Konfessionsschulen – und er steigt dadurch zum „Kurfürsten von Mainz“ (Hans Peter Schwarz) auf, der Journalisten gerne zum Tafeln in die Staatskanzlei einlädt, um sich von ihnen als Mann der Tat, des Machtwillens und des herablassenden Spotts bewundern zu lassen. Schon damals verbreitet Kohl die sonnenkönigliche Aura eines Menschen, der im Glanze seiner imposanten Leiblichkeit zum natürlichen Anziehungspunkt eines jeden Raumes wird, den er betritt. Schon damals tritt er mit der biedermeierlich-barocken Brutalität seiner politischen Urteile in Erscheinung. Schon damals fällt er mit gemütlicher Saumagen-Kälte seine Verdikte über jeden, der sich seinem Machtanspruch zu entziehen gedenkt.
Die wichtigsten politischen Stationen Helmut Kohls
1946: Eintritt in die CDU
1955: Mitglied im Vorstand der CDU Rheinland-Pfalz
1959: Zum ersten Mal in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt
1963: Wahl zum Fraktionsvorsitzenden
1964: Wahl in den CDU-Bundesvorstand
1966: Wahl zum CDU-Landesvorsitzenden
Quelle: dpa
Kohl übernimmt in der Mitte der Legislaturperiode das Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten von Peter Altmeier. Nach zweimaliger Wiederwahl mit absoluten Mehrheiten gibt er das Amt im Dezember 1976 an Bernhard Vogel ab.
Erste Kanzlerkandidatur Kohls. Die Union wird mit 48,6 Prozent stärkste Fraktion, aber SPD und FDP behalten ihre Mehrheit. Kohl tritt im Dezember als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz zurück und wird Oppositionsführer im Bundestag.
Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition setzt Kohl ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt durch und wird zum Bundeskanzler gewählt. Durch eine gezielt verlorene Vertrauensabstimmung macht Kohl im Dezember 1982 den Weg für eine Neuwahl frei.
Bei der Bundestagswahl erhalten Union und FDP eine klare Mehrheit für die von Kohl angekündigte Politik der "geistig-moralischen Wende".
1984: Innenpolitische Krisen wegen der Affäre um General Kießling und der Flick-Parteispendenaffäre. Im September trifft sich Kohl mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand am Ort der Schlacht um Verdun zum gemeinsamen Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege. Die Bilder des minutenlangen Händedrucks wurden zum Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung.
Mai 1985: Der gemeinsame Besuch Kohls mit US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg löst heftige Kontroversen aus. Auf dem Friedhof sind auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt.
November 1986: Kohl vergleicht den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow in einem "Newsweek"-Interview mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels.
1989: Innerparteiliche Widersacher um Heiner Geißler, Lothar Späth und Rita Süssmuth schmieden Pläne zur Ablösung Kohls. Der erfährt davon und kann den Putschversuch abwehren.
Am 9. November fällt die Mauer. Kohl verkündet danach ein Zehn-Punkte-Programm zur stufenweisen Herstellung der Einheit Deutschlands und Europas.
Abschluss der Einigungsverträge. Gegen den Widerstand von Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl setzt Kohl einen Umtauschkurs von Ost- in D-Mark von 1:1 durch. In einer Fernsehansprache verheißt er in Ostdeutschland "blühende Landschaften". In den 2+4-Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs erreicht Deutschland die Rückgabe seiner vollen Souveränität. Zusammen mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher erwirkt Kohl bei einem Besuch in der Sowjetunion die Zustimmung Gorbatschows, dass das vereinigte Deutschland in der Nato bleiben kann.
Am 3. Oktober 1990 ist Deutschland wiedervereinigt. Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember wird die Regierung Kohl im Amt bestätigt.
Kohl bricht sein Wahlversprechen von 1990, die Steuern wegen der deutschen Einheit nicht zu erhöhen. Außenpolitisch treibt seine Regierung zusammen mit Frankreich die europäische Einigung voran, die auf dem EG-Gipfel von Maastricht in der Vereinbarung über die Einrichtung einer Europäischen Union mit einer gemeinsamen Währung, dem Euro, mündet.
Union und FDP gewinnen die Bundestagswahl.
Kohl kündigt entgegen früheren Äußerungen seine neuerliche Kandidatur für die Wahl 1998 an. Wenig später präsentierte er Wolfgang Schäuble als seinen Wunsch-Nachfolger.
Regierung Kohl wird abgewählt, Kohl tritt auch als CDU-Vorsitzender zurück und wird Ehrenvorsitzender.
Aufdeckung der CDU-Spendenaffäre. Kohl räumt ein, selbst in den Jahren 1993 bis 1998 für die Partei Spenden von 1,5 bis zwei Millionen Mark erhalten und nicht angemeldet zu haben. Er verweigert jede Auskunft über die Namen der Spender mit der Angabe, er habe den Geldgebern mit seinem Ehrenwort Anonymität zugesichert. Es kommt zum Bruch mit der Parteiführung um Parteichef Schäuble und Generalsekretärin Angela Merkel. In der Folge wird er im Januar 2000 zum Verzicht auf den Ehrenvorsitz gezwungen.
Die Bonner Staatsanwaltschaft stellt ein Ermittlungsverfahren gegen Kohl zur Spendenaffäre gegen Zahlung einer Geldbuße von 300.000 Mark wegen geringer Schuld ein.
Kohls Frau Hannelore nimmt sich das Leben.
2004: Kohl legt den ersten Teil seiner Autobiografie vor, weitere Bände folgen.
2007: Nach mehreren Operationen verschlechtert sich Kohls Gesundheitszustand. Er tritt seltener in der Öffentlichkeit auf.
2008: Kohl heiratet Maike Richter.
2011: In einem Interview übt Kohl Kritik an der deutschen Außen- und Europapolitik, was als Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel wahrgenommen wird. Später relativiert er diese Interpretation etwas.
2012: Die Kanzlerin würdigt Kohl zum 30. Jahrestag seiner Wahl zum Bundeskanzler und überreicht ihm eine Sonderbriefmarke mit der Aufschrift "Kanzler der Einheit" und "Ehrenbürger Europas".
Kohl ist kein glänzender Redner, kein intellektueller Feingeist – vielen, die mit ihm aufsteigen, stößt seine bräsig-rohe Selbstherrlichkeit auf, auch seine ausgeprägte Bereitschaft, von sich selbst gerührt zu sein. Die bösen Urteile über seine rhetorische Ungeschliffenheit, seine volkstümelnden Hölderlin-Patriotismus, seine jungenstolz walzende Kraftnatur sind Legende. „Vorsitzender der Mainzer Provinzialregierung“ spottet Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) 1976 – und Franz-Josef Strauß (CSU), der schnaufende Polterer aus München, mit dem sich Kohl bis 1980 ein Duell auf offener Politbühne liefert, spricht ihm schlicht das Format eines Staatsmannes ab: „Helmut Kohl wird nie Kanzler werden. Der wird mit 90 Jahren Memoiren schreiben: Ich war 40 Jahre lang Kanzlerkandidat. Lehren und Erfahrungen aus einer bitteren Epoche.“ Doch Kohl, „der Dicke“, wie er bald genannt wird, die „Birne“, die „Riesenschildkröte“, legt sich einen Trotzpanzer zu, steckt alle Tiefschläge ein – und schlägt mit der Schwinge eines taumelnden Schwergewichtsboxers zurück. Nach seiner missglückten Kandidatur (1976) und der erfolglosen Bewerbung von Strauß (1980) bringt er 1982 große Teile der FDP an seine Seite, stürzt Schmidt vom Kanzlerthron und steht endlich da, wo er seiner Auffassung nach hingehört, an der Regierungsspitze Deutschlands: Helmut Kohl, „weder ein Fachmann noch ein Dilettant“, so Richard von Weizsäcker mit blankem Sarkasmus, „sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft.“
Die dröhnende Machtarroganz von Helmut Kohl – das ist das Eine. Das andere ist die vernichtende Herablassung, die Kohl zeit seines politischen Lebens von Parteifreunden und Leitmedien entgegen schlägt. Die „geistig-moralische Wende“, die er dem Land verordnet, weil er bei den Deutschen ein Patriotismusdefizit diagnostiziert hat, der verordnete Bau zweier schwarz-rot-gold glänzender Museen, das falsche Geschichtspathos mit Reagan und Mitterrand, die Wahlkampflüge von den „blühenden Landschaften“, seine Vorlieben fürs Pfälzische und Pfadfinderische, fürs Wandern und den Wolfgangsee, für Zierfische und Pfeifenrauch – permanent stellt man ihm das Zeugnis intellektueller Dürftigkeit aus, zeiht ihn der personifizierten Provinzialität, des regierungsamtlich gewordenen Kleingeistes. Kein Kanzler vor und nach ihm ist derart persönlich diskreditiert worden – für das, was er ist. Auch deshalb zwingt Kohl alle Nörgler und Besserwisser in den Staub, die ihn für eine „politische Null“ (Kurt Biedenkopf) halten. Auch deshalb gleichen Partei und Kanzleramt 1998 spätmittelalterlichen Fürstenhöfen, an denen Angst, Gehorsam, Gunsterweis und Vasallentreue herrschen. Kohls Macht ist damals längst zu ihrem bloßen Erhalt versteinert, sein „Aussitzen“ von Problemen zum Stilbegriff des politischen Stillstands geworden. Kohl tritt nichts als Kanzler ab, sondern als Denkmal seiner selbst – ist endlich: Geschichte.