Hermann Genz steht mitten auf der Straßenkreuzung. Kein Verkehr gerade. Aber Genz macht ohnehin nicht den Eindruck, als könnten ein paar Autos ihn jetzt stören. Er muss erst einmal erklären, was ihm wichtig ist. Mit der runden Brille und dem Schnauzer, eingewickelt in Mantel und Schal, könnte er bestens als Anwalt durchgehen, als Steuerberater oder Apotheker. Aber Genz gibt seine Lieblingsrolle: den Konfrontationstherapeuten.
Sein linker Arm zeigt die Straße runter. „Sehen Sie die Tankstelle da hinten?“ Jede Nacht versammeln sich dort Bulgaren und Rumänen, nur um darauf zu warten, dass pünktlich um drei Uhr Kleintransporter kommen, die die Männer auf Baustellen karren. Oder sonst wohin für irgendwelche Maloche. „Das also“, sagt Genz, „ist unser Arbeiterstrich.“ Dann, er steht noch immer auf dem Asphalt auf Höhe des Mittelstreifens, zeigt sein rechter Arm auf das Eckhaus direkt vor ihm. „Und hier, das sind wir.“ Er lächelt grimmig. „Die Konkurrenz.“
5 Gründe gegen Schwarzarbeit
Schwarzarbeit im Haushalt ist eine Ordnungswidrigkeit. Wer erwischt wird, muss deshalb mit einer Geldbuße von bis zu 300.000 Euro rechnen. Außerdem haben Haushaltshilfen, die ohne Anmeldung arbeiten wollen, schwierige Gründe dafür – so haben sie zum Beispiel keine Arbeits- oder sogar keine Aufenthaltserlaubnis. Werden sie erwischt, droht ihnen in diesem Fall die Ausweisung.
Eine Putzhilfe, die nicht gemeldet ist, arbeitet um die Staatskasse herum und zahlt somit auch nicht in die sozialen Sicherungssysteme ein. Wer seine Einnahmen nicht voll angibt, behält Gelder, die ihm nicht zustehen und letztlich bleibt so weniger Geld für diejenigen übrig, die es wirklich brauchen.
Nur eine kleine Unachtsamkeit kann schon große Probleme bringen. Sachschäden, wie eine kaputte Vase sind da lästig, aber was passiert, wenn sich ihre Putzhilfe schwer verletzt? Wer schwarzarbeitet, kann sich nicht gegen Schäden versichern – das gilt dann insbesondere für Sachschäden – auf denen bleiben Nutzer mit hoher Wahrscheinlichkeit sitzen.
Damit werben viele Online-Putzdienst-Vermittler: Jeder kann Haushaltsdienste von der Steuer absetzen – da können im Jahr einige Euros zusammen kommen und rechnet man die Steuerersparnis gegen die Kosten einer illegalen Hilfe auf, kann manchmal ein legales Angebot sogar preiswerter sein.
Wird die schwarz-arbeitende Haushaltshilfe krank oder fährt in den Urlaub, sorgt sie in den seltensten Fällen für einen Ersatz. Den muss der Arbeitgeber sich selbst suchen und hoffen, dass das klappt. Wer Kunde einer Dienstleistungsfirma ist, kann sich sicher sein, dass das zum Service gehört.
60 Meter, vielleicht 70, mehr sind es nicht, die zwei Welten voneinander trennen: legal von illegal, die Schwarzarbeit von ihrer Konkurrenz – dem deutschen Sozialstaat.
„JobBörse“: Wenn die Männer nachts im blauen Glimmen der Tankstelle auf ihre Kuriere und die Arbeit warten, können sie stets den roten Schriftzug über der Eingangstür sehen, die Aushänge der Stellenangebote in den Schaufenstern und ebenso die aufgeräumten Schreibtische der Berater. Ein stummes Angebot, penetrant und gleichzeitig offen und einladend. Nacht für Nacht.
Die JobBörse sendet genau die Botschaft, wie Hermann Genz sie haben will: Ein anderes Leben ist nur 60 Schritte entfernt. Es könnte ein besseres sein.
Ihr habt die Wahl.
WirtschaftsWoche: Herr Genz, wir sind in Jungbusch, einem Mannheimer Multikulti-Stadtteil. Was macht das Jobcenter ausgerechnet hier mit einer Außenstelle?
Hermann Genz: Ganz einfach: Wir stören.
Wie bitte?
Jungbusch war stets ein klassisches Zuwandererquartier. Aber vor zwei, drei Jahren haben wir anerkennen müssen, dass wir mit dem Zuzug von Bulgaren und Rumänen ein echtes Problem haben. Bei uns im Jobcenter gingen immer mehr Anträge auf Unterstützung ein, dem wollten wir nicht mehr einfach nur zusehen. Also mussten wir raus. Dahin, wo die Leute sind.
Die Stärken und Schwächen des deutschen Arbeitsmarkts
Das Arbeitseinkommen umfasst das Einkommensniveau und den Grad der Einkommensungleichheit.
Der Durchschnittsverdienst in Deutschland gehört zu den höchsten im OECD-Raum. Auch die Einkommensungleichheit ist vergleichsweise gering, obgleich Staaten wie Belgien, die Niederlande oder die Schweiz Deutschland in diesem Punkt noch etwas voraus haben.
Die Arbeitsmarktsicherheit definiert die OECD über das Risiko, arbeitslos zu werden und die soziale Sicherung für Arbeitslose.
Das Risiko, in Deutschland arbeitslos zu werden, schätzt die OECD im Vergleich zu anderen Ländern als relativ gering ein. Das deutsche Sozialsystem sichere zudem Arbeitslose und ihre Familien effektiv ab.
In puncto Qualität des Arbeitsumfeldes liegt Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt. 2010 empfanden 19 Prozent der deutschen Arbeitnehmer die Arbeitsbedingungen als schwierig bzw. stressig. In Dänemark und in den Niederlanden lag die Zahl nur halb so hoch (9 Prozent).
Die OECD weist darauf hin, dass die Hälfte aller Arbeitnehmer in Europa angibt, schlechte Arbeitsbedingungen beeinträchtigen ihre Gesundheit und die Qualität ihrer Arbeit.
Nach stören klingt das aber nicht gerade.
Doch, wir pflegen hier das offene Wort. Ich sage jedem Antragsteller: Wir sind anstrengend, ihr habt euch ein kompliziertes Land ausgesucht. Es gibt Gesetze, Vorschriften, Pflichten und Dienstwege – und das Dümmste ist: Wir halten uns auch noch dran. Aber ich sage ihnen eben auch, dass wir mit unserem ganzen Arsenal helfen, das wir haben, wenn sie sich für den geraden Weg entscheiden.
Und das funktioniert?
Der Arbeiterstrich ist jedenfalls schon viel kleiner geworden. Für mich ist entscheidend, dass wir diejenigen abfischen, die arbeiten wollen. Die müssen wir hier in die JobBörse hineinbekommen und ihnen passende Angebote unterbreiten. Den Rest erledigt die Mund-zu-Mund-Propaganda für uns. Glauben Sie mir: Wenn wir jemandem hier etwas Besseres anbieten als zwielichtige Plackerei auf einer Baustelle oder Schrottschleppen im Dunkeln, wissen es morgen in deren Community alle.
Sie haben die Filiale vor etwas mehr als einem Jahr eröffnet, sechs Mitarbeiter sind täglich vor Ort, darunter auch eine bulgarische Muttersprachlerin. Lohnt sich dieser große Aufwand?
Wenn er sich nicht lohnen würde, hätten wir nicht mittlerweile zehn solcher Börsen in ganz Mannheim. Außerdem ist der Auftrag überall ein wenig anders, je nach Ort und Klientel. Was die Börse hier in Jungbusch angeht, darf man nicht naiv sein: Die Zuwanderer gehen nicht mehr in ihre Heimat zurück, wer das glaubt, macht sich was vor. Also sollten wir uns kümmern.
Last-Minute-Schalter für Chancen
Genz leitet den Fachbereich Arbeit und Soziales der Stadt Mannheim, er ist der oberste Arbeitsvermittler der Stadt. Und einer der erfolgreichsten des ganzen Landes. Bundesweit sank die Zahl der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger zwischen 2008 und 2014 um rund 13 Prozent. In Mannheim waren es im selben Zeitraum mehr als 20 Prozent. Als Genz 2003 seinen Dienst am Rhein antrat, gab es in den Karteien außerdem mehr als 1000 unter 25-Jährige ohne Job. Zwei Jahre später waren es kaum mehr als 100.
Das Beste: Man muss die Welt für solche Erfolge nicht einmal neu erfinden.
Man muss nur suchen. Die Idee für die Job-Börsen etwa hatte Genz nicht selbst, sondern aus den Niederlanden. Ein wenig wie Last-Minute-Schalter am Flughafen kam ihm das dort vor, nur eben für Menschen, die keine Karibikreise suchen, sondern eine neue Chance. Er fand den Ansatz genial, und deshalb kopierte er ihn einfach. „Sehr viel von dem, was wir in Mannheim machen“, sagt er offen, „habe ich mir in Europa abgeschaut.“
Mit diesem europäischen „Best of“ ist Genz selbst ein Vorbild geworden. Anfang der Zweitausenderjahre leitete er das Arbeitsamt in Köln. Als die Kommission von Peter Hartz nach Inspirationen für den Umbau der skandalgeschüttelten Bundesanstalt für Arbeit suchte, landete sie bei ihm. Dort praktizierte Genz bereits im Kleinen das, was später ein Kernstück der hartzschen Reformagenda werden sollte: die Fusion von Jobförderung und Sozialhilfe unter einem Dach.
Was folgte, gehört zum Kanon der jüngeren deutschen Politikgeschichte: Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) goss die Vorschläge der Hartz-Kommission in Gesetze, um den Preis seiner eigenen Kanzlerschaft. Ideen von damals wie Job-Floater, Personal-Service-Agenturen oder Ich-AGs hat die Wirklichkeit längst hinweggespült. Es kamen und blieben aber: die neue Grundsicherung, die fast jeder Deutsche unter ihrem Etikett Hartz IV kennt, das hehre Prinzip des „Förderns und Forderns“ und eine hitzige Debatte, ob „Hartz“ nun das Ende des Sozialstaats war – oder dessen letzte Rettung.
Diese Debatte läuft bis heute.
Hermann Genz kann das nicht verstehen. Für ihn selbst ist die Frage, ob dieses umstrittene Reformwerk nun richtig oder falsch war, entschieden: Es war richtig. Was die Kommission vorlegte, hat er begrüßt und verteidigt, und er tut dies bis heute. Gerade, weil er all dessen Schwächen kennt.
Zehn Jahre Hartz IV: Arbeitslosigkeit damals und heute
Rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland - das sind 6,3 Prozent - sind heute arbeitslos (Stand: Oktober 2014). Vor zehn Jahren war noch jeder Zehnte (10,1 Prozent) ohne Job, 4,4 Millionen Menschen hatten keine Arbeit (Stand: Oktober 2004). Im darauffolgenden Jahr erreichte die Arbeitslosigkeit mit rund fünf Millionen Arbeitslosen ihren Spitzenwert seit der Wiedervereinigung. Im Wesentlichen hing diese Entwicklung mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen („Hartz-IV-Effekt“).
Den Zahlen nach zu urteilen haben Frauen heute wie damals kein größeres Risiko als Männer, arbeitslos zu werden. Der tatsächliche Anteil arbeitsloser Frauen dürfte dennoch höher liegen: Statistiker vermuten, dass insbesondere unter Frauen die stille Reserve höher liegt, weil viele keine Vermittlungschancen mehr sehen.
Im Jahresmittel 2004 betrug die Arbeitslosigkeit im Westen 8,5 Prozent, im Osten war sie mit über 18 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Der Abstand hat sich inzwischen merklich verringert, ist aber weiterhin groß: Im Westen liegt die Quote heute bei etwa sechs Prozent, im Osten bei etwa zehn Prozent. Während das Potenzial an Menschen, die einer Arbeit nachgehen können, in Gesamtdeutschland stieg, sank es im Osten leicht.
Der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren ist in den vergangenen zehn Jahren zwar zurückgegangen. 2005 waren in dieser Altersgruppe noch knapp 15 Prozent arbeitslos, heute hat sich die Zahl mehr als halbiert. Ein Grund zum Jubeln ist das aber nur bedingt: Schließlich sinkt aus demografischen Gründen seit Jahren die Zahl der jungen Erwachsenen insgesamt. Die Arbeitslosenquote der Unter-25-Jährigen liegt seit zehn Jahren konstant etwa drei Prozentpunkte über der Gesamtquote.
In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil der 55- bis 64-Jährigen an der Gesamtarbeitslosigkeit von 25 auf über 33 Prozent. In absoluten Zahlen waren aber weniger Ältere arbeitslos. Denn auch hier spielt die demografische Entwicklung eine Rolle. 2005 waren gut 15 Millionen Menschen zwischen 50 und 64 Jahre alt, 2015 werden es bereits über 18 Millionen sein. In dieser Gruppe hat sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2005 um knapp zehn Prozentpunkte erhöht, denn die Zahl der arbeitenden Älteren ist auf knapp 9 Millionen angestiegen.
Die bei der Bundesarbeitsagentur gemeldeten offenen Stellen sind in den vergangenen zehn Jahren mehr geworden - mit einem deutlichen Knick zur Finanzkrise 2009. Im Jahr 2005 waren 256.000 Stellen als offen gemeldet, 2013 waren es 434.000. Seit 2012 ist die Zahl der offenen Stellen wieder rückläufig.
Vor genau zehn Jahren trat die Hartz-Reform in Kraft. Ein Grund zum Feiern?
Herrmann Genz: Ich kann mich noch gut an die Montagsdemonstrationen erinnern. Ich kenne den Hass und die Wut, die einem dort entgegenschlugen, weil ich mich als Befürworter zu erkennen gab. Leider habe ich damals vielen Politikern dabei zusehen müssen, wie sie sich wegduckten. Ich habe immer für diese Reform gekämpft. Aber eines war klar: Bis dieser Umbruch abgeschlossen ist, vergehen zehn Jahre. So gesehen, fangen wir mit Hartz gerade erst an.
Wie meinen Sie das? Der deutsche Arbeitsmarkt feiert doch einen Beschäftigungsrekord nach dem nächsten.
Die Hartz-Reform wurde zweimal nach Karlsruhe geschleift. Einmal ging es um die Höhe der Regelsätze, ein zweites Mal um die Frage, ob Arbeitsagentur und Kommunen bei der Jobvermittlung überhaupt gemeinsame Sache machen dürfen. Es gab gesetzliche Nachbesserungen im Dutzend. Dies zu verdauen hat gedauert. Und es hat Kraft verschwendet, die wir anderswo gebraucht hätten.
Wo genau wäre denn mehr nötig gewesen?
Es bringt nur eines Arbeitslose in Jobs: dichte und gute Betreuung. Auf die schiere Menge von Fördermaßnahmen kommt es dagegen nicht an. Ich habe irgendwann aufgehört, die Arbeitsminister und deren neue Instrumente zu zählen, mit denen wir im Laufe des vergangenen Jahrzehnts berieselt worden sind...
Wenn über die Grundsicherung gestritten wird, ist gern und viel von Würde die Rede. Können Sie damit etwas anfangen?
Ja, allerdings wohl anders als viele Kritiker. An einem krankt Hartz in der Tat: Leistung und Arbeit sind vollständig entkoppelt. Das System trimmt Arbeitslose auf Nicht-Aktivität. Geld für nichts zu bekommen, das empfinden die meisten als unwürdig. Die wollen eine Chance. Ich nenne das gerne meine Sucht-Theorie: Wir auf dem Amt sind die Dealer, unsere Kunden sind die Süchtigen. Und wir versorgen sie mit dem Stoff, den sie brauchen: Geld. Wenn wir diese Denke nicht ablegen, ändert sich nichts.
Ein Job schon am nächsten Montag
Ein Jobcenter, wie Hermann Genz es sich vorstellt und wie er es in Mannheim Stück für Stück aufgebaut hat, setzt die Reize anders, von Anfang an. Und das heißt: wirklich von Anfang an, vor der Tür. Die langen Fensterfronten in der Zentrale am Rand der Mannheimer Innenstadt hängen voll mit Anschlägen in DIN A4, es sind all die Stellen, die das Amt sofort vermitteln könnte. Neben der Eingangstür klebt noch mal ein signalrotes Poster, das die exakte Zahl der Arbeitsangebote nennt, gerade sind es mehr als 2000.
Noch bevor man die zwei Schiebetüren ins Innere passiert hat, kann man bereits links in Zimmer 01 zu Herrn Abdullah abbiegen. Abdullah ist Sofort-Vermittler. In seinem Telefon hat er die Direktdurchwahl-Nummern von Zeitarbeitsfirmen und Callcentern gespeichert. „Wenn Sie bereit sind, alles zu machen“, sagt er freundlich, „habe ich spätestens am nächsten Montag einen Job für Sie.“ Von Abdullahs Büro aus kann man gleich eine Tür weitergehen. Dort ist ein Fotostudio aufgebaut, falls man neue Bewerbungsfotos benötigt, Schminkkoffer für Damen und Leihkrawatte für Herren liegen bereit.
Im Foyer des Jobcenters, ebenfalls noch vor den Anmeldetresen platziert, sitzen mehrere Mitarbeiter an Schreibtischen. Die Bewerbungstrainer helfen bei der Formulierung von Anschreiben oder tippen hier ganze Lebensläufe. Auf Wunsch sofort. Mitten im Raum hängt ein kostenloses Telefon, von dem aus jeder jederzeit einen potenziellen Arbeitgeber anrufen kann.
„Merken Sie was?“, fragt Genz. „Wir haben noch keinen Gedanken an Kohle verschwendet.“
Vor der Tür stehen Leihfahrräder des Jobcenters. Was hat es mit denen auf sich?
Herrmann Genz: Wir wollen hier zuerst über Arbeit reden und wie man sie bekommt, nicht über finanzielle Zuwendung. Die Räder gehören zu dieser Philosophie. Wir zahlen kein Fahrgeld in bar aus, mit dem unsere Kunden machen könnten, was ihnen beliebt. Wer direkt von hier schnell zu einem Bewerbungstermin will, der kann sich eben ein Rad ausleihen.
Die Hartz-Reformen
Die von dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingesetzte Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung von Peter Hartz legte im August 2002 das Hartz-Konzept vor.
Die Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes wurden vier Maßnahmen eingeteilt: Hartz I bis IV.
Das Erste Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat am 1. Januar 2003 in Kraft.
Ziel waren die Erleichterungen von neuen Formen der Arbeit und die Förderung der beruflichen Weiterbildung durch die Arbeitsagenturen. Hierfür wurden unter anderem Bildungsgutscheine verteilt. Zudem wurde ein Unterhaltsgeld, gezahlt durch die Arbeitsagentur eingeführt und die Einstellung von Zeitarbeitern erleichtert.
Auch die Zumutbarkeitsregelung wurde aufgeweicht. So mussten Arbeitslose ohne familiäre Bindung fortan ab dem vierten Monat der Arbeitslosigkeit bundesweit für Jobs zur Verfügung stehen.
Der Druck auf die Arbeitslosen wurde weiter erhöht, etwa durch eine Kürzung der Arbeitslosenhilfe und einer Meldepflicht für Arbeitslose. Demnach müssen sich Arbeitnehmer bereits mit Erhalt der Kündigung arbeitssuchend melden. Wer dagegen verstößt, muss mit einer Absenkung des Arbeitslosengelds rechnen.
Das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat ebenfalls am 1. Januar 2003 in Kraft.
Hierbei ging es hauptsächlich um die Regelung der geringfügigen Beschäftigung – der sogenannten Mini- und Midijobs. Weitere Aspekte, die mit Hartz II entstanden, waren die Ich-AGs und die Einrichtung von Jobcentern.
Mit der Hartz-II-Reform wurde die Geringfügigkeitsschwelle für Mini-Jobs von 325 Euro auf 400 Euro im Monat erhöht (aktuell liegt sie bei 450 Euro). Innerhalb dieser Grenze fallen für den Arbeitnehmer keine Steuern an, er zahlt auch keine Sozialversicherungsbeiträge. Bei den Midijobs (Einkommen von 400 Euro bis 800 Euro) gibt es ansteigende Arbeitnehmerbeträge zur Sozialversicherung; Arbeitgeber zahlen den vollen Beitragssatz.
Im wesentlichen Teilen war das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ab Januar 2004 gültig.
Mit Hartz III wurde das Arbeitsamt zur „Agentur für Arbeit“ umstrukturiert. Ein Kernpunkt dabei war die Einführung von Zielvereinbarung, die die einzelnen Agenturen erfüllen mussten. Wie diese Ziele erreicht wurden, blieb weitestgehend den einzelnen Agenturen überlassen.
Die Verwaltung auf Landesebene wurde abgeschafft. Stattdessen wurden sogenannte Job-Center geschaffen, die als zentrale Anlaufstelle für Arbeitslose dienen sollten. Zuvor mussten sie sich beim Sozialamt und beim Arbeitsamt melden.
Mit den Jobcentern wurden auch die Fallmanager eingeführt, die sich um die Langzeitarbeitslose kümmern sollen.
Die tiefgreifendste der vier Reformen, das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Hartz IV – trat wesentlich im Januar 2005 in Kraft.
Mit Hartz IV wurde die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zu Arbeitslosengeld II zusammengeführt. Die Arbeitslosenhilfe wurde komplett abgeschafft; die Sozialhilfe beziehen nur noch nicht erwerbsfähige Arbeitslose. Für die Verwaltung des Arbeitslosengelds II ist die Agentur für Arbeit zuständig.
Das bisherige Arbeitslosengeld – also die Leistung, die Arbeitslose durch ihre vormaligen Einzahlungen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung erwarben – hieß ab 2005 Arbeitslosengeld I. Wer arbeitslos ist und zuvor mindestens zwölf Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, erhält 60 Prozent seiner vorherigen Lohns (mit Kind: 67 Prozent). Es kann in der Regel nur für ein Jahr bezogen werden. Nach Ablauf des Arbeitslosengelds I, wird das vom bisherigen Lohn unabhängige Arbeitslosengeld II gezahlt. Ab dem Januar 2015 beträgt der Regelbedarf für einen Alleinstehenden 399 Euro – kann je nach Vermögen aber deutlich geringer ausfallen.
Die Bundesagentur prämiert doch, wenn Jobs vermittelt werden. Nicht aber, wenn Arbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht.
Leider ist das so. Für jeden Leistungsbezug, den wir verhindern können, weil unsere Kunden bereits vor der Anmeldung eine Aufgabe finden, bekommen wir nichts, obwohl wir dem Staat damit immense Kosten ersparen. Ein ziemlicher Fehlanreiz, finden Sie nicht?
Trotzdem kann das Jobcenter viele nicht sofort vermitteln. Was passiert mit denen?
Die kriegen bei uns Geld und Liebe aus einer Hand. Das heißt nichts anderes, als dass wir unsere Aufgaben bündeln: Die Geldleistungen und die Arbeitsvermittlung erhalten sie bei uns von einem einzigen Sachbearbeiter. Dieses simple Prinzip stammt ursprünglich aus Dänemark, müsste nur Schule machen. Und das geht noch weiter: Falls ein Kunde weitere Hilfe benötigt, dann haben wir alle Fachleute direkt hier im Haus, egal, ob es der Schuldnerberater, der Reha-Spezialist oder der Psychologe ist. Der Bearbeiter bringt sie persönlich dorthin. Wir nennen das warme Übergabe. So geht niemand verloren. Diese Fürsorge hat übrigens einen hübschen Nebeneffekt für den Staat: Sie ahnen gar nicht, wie viele Spontanheilungen im Treppenhaus wir auf dem Weg zum Amtsarzt schon hatten.
Das Arbeitslosen-Milieu aufbrechen
Die Gesetze sind für Genz wie Noten: notwendige Grundlage seiner ganz eigenen Interpretation. Seine Haltung ist hart und herzlich, er umarmt und fordert ein. Mitfühlendes Herz, Sinn fürs Pragmatische und eine für den öffentlichen Dienst eher unübliche Schlitzohrigkeit sind bei ihm eine wirkungsvolle Verbindung eingegangen. So ausgestattet führt er den Kampf gegen seinen größten Gegner: die Routine.
Früher waren die Kunden des Mannheimer Jobcenters nach Nachnamen auf die Mitarbeiter verteilt, A bis E oder M bis O, so weit, so üblich. Nur hatte dies den Nachteil, dass der Blick blind war für die sozialen und räumlichen Verbindungen. Oder um es mit Genz zu sagen: „Wir haben nicht mitgekriegt, wenn in manchen Mietshäusern oder bestimmten Straßenzügen kaum einer arbeiten ging.“
Heute sortieren sich die Mannheimer Jobcenter-Mitarbeiter nicht mehr nach dem Alphabet, sondern nach Adressen. Die Arbeitslosen kennen sich schließlich, sie bilden ein Milieu – und das sollen Genz’ Mitarbeiter versuchen aufzubrechen. Heute erzielen sie in Mannheim auch deshalb bessere Resultate als in anderen Jobcentern, weil alle registrierten Kunden einer Gegend gleichzeitig zu einer Förderung vermittelt werden. Und nicht wie früher Müller im Februar und Schulze im August.
Für die ganz harten Fälle zieht das Jobcenter dann noch ein anderes Register. Alle Langzeitarbeitslosen in Mannheim jenseits der 50 erhalten einmal im Jahr eine Gratis-Einladung zu einem eigens für sie organisierten Konzert. Viele sind ewig nicht mehr ausgegangen, nun spielt einen Abend lang Klaus Lage und Band für sie oder Heinz Rudolf Kunze oder Julia Neigel. Nur für sie. „Starke Musik für starke Menschen“ heißt das Programm: Seelentröstung vom Amt, kostenlose Zuwendungs- und Zuversichts-Infusion.
Herr Genz, Ihr Konzert-Engagement in allen Ehren. Aber hilft das den Betroffenen wirklich?
Hermann Genz: Hier geht es zunächst einmal um eine Botschaft, die unbezahlbar ist: Ihr seid etwas wert. Üblicherweise schauen Vermittler viel zu sehr nur auf das, was Arbeitslose nicht können, und versuchen dann, mit viel Geld Defizite zu beheben. Wäre es nicht besser, sich auf die vorhandenen Kenntnisse und Leidenschaften zu stürzen, die fast jeder hat?
Passiert das denn nicht?
Viel zu selten. Ich illustriere das gerne an mir selbst: Das Häuschen ist noch nicht abbezahlt, also habe ich Schulden. Ich trinke gerne ein Glas Rotwein, und mein Rücken zwickt. Der Jüngste bin ich auch nicht mehr. Also komme ich in wenigen Sekunden gleich auf mehrere Vermittlungshemmnisse. Wenn Sie mir noch ein paar Minuten geben, werden es noch mehr. Auf dem Papier bin ich also ein hoffnungsloser Fall. Trotzdem halte ich mich noch für ziemlich leistungsfähig. Mit dieser Denke kommen wir künftig nicht weiter.
Individuelle Beratung, enge Betreuung – das würde jeder unterschreiben. Aber lautet die Wahrheit nicht: Das ist bei mehreren Millionen Hartz-IV-Empfängern schlicht nicht zu leisten?
Ich hatte vor vielen Jahren mein Erweckungserlebnis, als ich in den Niederlanden an einer Exkursion teilnahm. Da saß ein stotternder, verunsicherter Kunde, und sein Job-Berater stellte ihm auch noch ganz merkwürdige Fragen. Eine davon lautete: „Feuer oder Wasser?“ Ganz eindeutig zog er Wasser vor, wie sich sofort herausstellte. Die beiden fingen an, darüber zu reden. Der Mann wurde in den folgenden Minuten immer ruhiger und entspannter.
Aber bekam er am Ende tatsächlich auch einen Job?
Ja. In einer Auto-Waschanlage. Da habe ich kapiert, was passgenaue Vermittlung heißt.