
WirtschaftsWoche: Der Präsident der Deutschen Rentenversicherung verkündete kürzlich im "Handelsblatt", dass schon 2018 der Rentenbeitrag wieder steigen müsse. Gibt es aus Sicht der Demografie irgendeinen Grund zur Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung des Rentenproblems?
Herwig Birg: Das Ergebnis der letzten Rentenreform war eine Automatik zur Absenkung des Rentenniveaus in dem Maße, wie die Lebenserwartung steigt. Dahinter steht der Wunsch, nicht alle Jahre wieder im Bundestag laut darüber nachdenken zu müssen, wie sehr die Renten sinken oder die Beiträge steigen müssen. Das will kein Politiker.
Aber sie fragen nach einer Lösung. Eine radikale wäre die Abschaffung des Ruhestandsalters, wie Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock vorgeschlagen haben. Jeder soll also bis zum Umfallen arbeiten. Dazu wird es aber nicht kommen, weil das im höchsten Maße ungerecht wäre. Da würden selbst die phlegmatischen Deutschen einen Aufstand machen.





Hans-Werner Sinn fordert, nur noch Eltern von drei Kindern eine volle Rente zu zahlen, und Kinderlose zur zusätzlichen privaten Vorsorge zu verpflichten. Vernünftig?
Sinn erinnert damit nur daran, was das Grundgesetz gebietet und was das Bundesverfassungsgericht seit vielen Jahren wiederholt formuliert hat, zum Beispiel im Trümmerfrauenurteil und im Pflegeversicherungsurteil. Die Richter fordern, die Beitragssätze zur Pflegeversicherung nach der Zahl der eigenen Kinder zu staffeln. Das gleiche schlugen die Verfassungsrichter auch für die Renten- und Krankenversicherung vor. Diese Urteile resultieren aus dem Verfassungsgrundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz. In der derzeitigen Praxis werden Kinderlose privilegiert und damit der Gleichheitsgrundsatz verletzt. Auf diesem Feld haben wir keinen Rechtsstaat mehr.
Demografie ist ein beliebtes Thema für politische Sonntagsreden, aber in der konkreten Politik spielt sie keine Rolle.
Mittlerweile haben wir es mit einer strategischen Desinformation der Bevölkerung durch die Politik zu tun. Früher sah man in der demografischen Entwicklung ein großes Problem, jetzt sehen die Politiker darin nur noch „Chancen“. Das ist völlig grotesk und widerspricht jeder Vernunft. Wenn die Regierung von einer „demografiefesten“ Gesellschaft redet, könnte sie auch von einer mathematikfesten Gesellschaft reden. Als die damalige Forschungsministerin Annette Schavan 2013 das Wissenschaftsjahr der „demografischen Chance“ ausrief, gab es ein riesiges Transparent „Die demografische Chance“ an einem Bauzaun am Berliner Hauptbahnhof. Das erinnerte mich an die riesigen roten Spruchbänder in der DDR: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.“





Und die Demografiestrategie der Bundesregierung?
Diese Demografiestrategie verdient den Namen nicht. Da ist nur von den Auswirkungen die Rede, und wie man sich an sie anpassen soll. Kein Satz über die Ursachen! Die Verfasser gehören zu der ganz kleinen Gruppe von Bundestagsabgeordneten, die sich überhaupt für Demografie interessieren. Aber selbst die weigerten sich, das zentrale Thema der Geburtenrate auch nur zu berühren, geschweige denn Lösungsvorschläge zur Steigerung der Geburtenzahlen vorzuschlagen.
Warum wird dieses Thema nicht angefasst?
Das hat wahrscheinlich sehr tiefe Wurzeln. Da kommen wir in die Sozial- und Geschichtsphilosophie. Vielleicht sehnt sich dieses Land danach, die als unerträglich schwere Last empfundenen Themen endlich abzuwerfen, nachdem Deutschland im 20. Jahrhundert von einer Katastrophe in die andere stolperte. Auf einem der jährlichen Demografieforen der Bundesregierung sagte mir ein hochrangiger Vertreter der deutschen Wirtschaft hinter vorgehaltener Hand, nachdem er gerade eine regierungsfreundliche Rede über die angeblichen Chancen der demografischen Entwicklung gehalten hatte, es hätte ohnehin keinen Sinn mehr, in Deutschland etwas zu tun. Seine vier Söhne würden alle auswandern. Das ist typisch für das Verhalten vieler politischer Verantwortungsträger. Vermutlich gibt es ein unterschwelliges Einverständnis mit dem demografischen Abwärtstrend, eine Art Sehnsucht nach dem Ende des Weges, der als Sackgasse erkannt wurde.