Hilfreiche Software „Kita-Match“: Ein Kitaplatz per Algorithmus

Die Kita-Plätze in Deutschland sind knapp. Für viele Familien ist es nicht ersichtlich, nach welchen Kriterien die Betreuungsplätze vergeben werden. Quelle: dpa

Die Suche nach einem Kitaplatz ist oft nervenaufreibend, die Vergabe ist oft intransparent und zeitintensiv. Ökonomen haben jetzt einen Algorithmus entwickelt und getestet, der für mehr Transparenz und Effizienz sorgt.

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Betreuungskapazitäten für Kinder sind in Deutschland knapp, im vergangenen Jahr fehlten mehr als 340.000 Kitaplätze. Manchmal müssen Eltern gar vor Gericht ziehen, um ihren Nachwuchs in einer geeigneten Kita unterzubringen. Eine Familie aus Münster etwa zog 2017 bis vor das Oberverwaltungsgericht – und bekam Recht. Die Richter monierten vor allem die fehlende Transparenz bei der Kitaplatzvergabe. Dieses Urteil bescherte den Eltern nicht nur einen Kindergartenplatz, sondern weckte auch das Interesse von Ökonomen, die sich mit dem so genannten Marktdesign beschäftigen. Diese Forschungsrichtung der Volkswissenschaften analysiert Märkte, in den die Steuerung nicht über den Preis erfolgen kann oder soll.

Das wissenschaftliche Ergebnis lässt sich in Kürze im renommierten Journal of Mechanism and Institution Design nachlesen. Dort präsentieren Ökonomen vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), der Universität Münster und der Universität Oxford eine Studie, wie sich Kitaplatzvergaben künftig effizienter und schneller organisieren lassen. Die Wissenschaftler Thilo Klein, Tobias Reischmann und Sven Giegerich haben dazu einen Algorithmus entwickelt, der anhand von Rankings und Präferenzen das beste „Match“ zwischen Kindergarten und Kind findet. Die Studie liegt der WirtschaftsWoche exklusiv vor.

Derzeit ist die Lage so: Der Bewerbungsmarathon startet für Eltern schon Monate im Voraus. Meist wird sich bei jeder Kita einzeln beworben, manchmal folgt ein persönliches Vorstellungsgespräch bei der Einrichtung. Nach welchen Kriterien ein Platz für die Minis vergeben wird, ist für Eltern nicht ersichtlich. Kindergärten können von der Stadt, von kirchlichen Organisationen oder privaten Initiativen betrieben werden. Jeder Betreiber kann die Aufnahmekriterien individuell festlegen. Deshalb können Eltern schwer nachvollziehen, warum sie Absagen von den Einrichtungen bekommen.

Doch auch bei einer Zusage bleibt es oft schwierig. Für die Eltern stellt sich die Frage: Nehmen wir den Platz an oder kommt noch ein besseres Angebot? Lieber sagen Eltern dann Plätze zu, die nicht optimal sind, bevor sie am Ende ohne Betreuung für ihr Kind dastehen. Damit blockieren sie Plätze für andere Kinder, und eine spätere Neuverteilung verlängert die Kitaplatzvergabe zusätzlich.

Hier setzen die Ökonomen an – und zwar mit hohem Praxisbezug. „Nach dem Urteil in Münster sind die Nachbarstädte Greven und Saerbeck auf uns zugekommen“, berichtet ZEW-Ökonom Thilo Klein, Professor an der Hochschule Pforzheim. Das zuständige Jugendamt des Kreises Steinfurts suchte nach einer Möglichkeit für mehr Transparenz. Ziel war es, die Suche nach einem Betreuungsplatz, aber auch den organisatorischen Aufwand für die Kita-Betreiber zu vereinfachen. Denn Kindergärten müssen auf eine passende Alters- und Geschlechtsmischung in den Gruppen achten. Zudem bieten sie einen unterschiedlichen Betreuungsumfang an, beispielsweise für 25, 35, 45 Stunden in der Woche. All das macht die Vergabe von Kitaplätzen kompliziert.

Kita-Algorithmus basiert auf Nobelpreis-Spieltheorie

Ökonom Klein und seine Kollegen stützten sich bei ihrer Arbeit auf die „Theorie der stabilen Verteilung und Praxis des Marktdesigns“, die den US-Ökonomen Alvin E. Roth und Lloyd S. Shapley 2012 den Wirtschaft-Nobelpreis eingebracht hat. Dieser spieltheoretische Ansatz hat sich bei der Studienplatzvermittlung bewährt, die Stadt New York nutzt diese seit 2004 erfolgreich, um Schülerinnen und Schüler auf High Schools aufzuteilen. Klein, Reischmann und Giegerich bauten darauf „Kita-Match“ auf, ihren neuen Kita-Algorithmus, der ein dezentrales Verfahren mit mehreren Runden vorsieht.



Bei dem Online-Verfahren dürfen Eltern Kitas in einer Liste priorisieren. Die Kindergärten ihrerseits geben Kriterien an, die ihnen am wichtigsten sind. Das können die Religionszugehörigkeit und das Alter der Kinder sein oder die Frage, ob bereits Geschwisterkinder in der Kita sind. Der Algorithmus schlägt den Kitas entsprechend nach der Gewichtung ihrer Kriterien das am besten passende Kind vor. Die Leitung kann dann entscheiden, ob sie diesem Kind einen Platz anbieten will oder einem anderen Kind, das weiter unten auf der Liste steht. Der Algorithmus wählt dann automatisch aus allen Zusagen den besten Platz für das jeweilige Kind aus.

Diese Auswahl geht solange, bis alle Plätze vergeben sind. Meistens dauert die gesamte Vergabe nur sechs bis zehn Runden. Das Besondere: Bei jeder Runde können die Kitas berücksichtigen, welchen Kindern sie bereits eine Zusage erteilt haben. Fehlt nun beispielsweise noch ein vierjähriges Mädchen in einer Gruppe, kann die Kita diesem Kind den Vorzug geben, auch wenn es auf der Rangliste erst auf Platz drei steht.

Haben die Kindergärten online alle Plätze vergeben, können Eltern entscheiden, ob sie den ihnen zugewiesenen Platz annehmen oder nicht. Alle Restplätze werden dann in einer letzten Runde vergeben. „Die Vergaberunden können entweder an einem Tag oder auch über eine Woche verteilt ablaufen“, sagt Klein. Anstatt über mehrere Monate hinweg können Kitaplätze so in wenigen Stunden verteilt werden.

Allerdings kann der Algorithmus ein Problem nicht vollständig beheben: die unfaire Verteilung. Die Anzahl der ungerecht behandelten Kinder hat sich bei der Testvergabe nur halbiert. So kann es immer noch passieren, dass Geschwisterkinder keinen Platz in der Kita ihres älteren Bruders bekommen. Eine Verteilung der Kitaplätze allein nach Vergabekriterien wäre die fairste Lösung. Allerdings wollen Kitabetreiber trotz Algorithmus weiter bei der Platzvergabe mitentscheiden und eine gewisse Flexibilität im Einzelfall behalten.

Kindergärten wollen Autonomie behalten

Den Kindergärten diese Autonomie wegzunehmen, wäre keine Option. Denn der Algorithmus funktioniert nur zuverlässig, wenn alle Kitas einer Stadt oder Kommune mitmachen. Würde der Algorithmus allein nach den Aufnahmekriterien die Plätze zuteilen, wäre die freiwillige Teilnahme an dem Verfahren für gut 20 Prozent der Kitas nicht mehr attraktiv. Auch in Saerbeck hatten die Kita-Betreiber einige Befürchtungen, als das Jugendamt erstmals auf sie zukam. „Wir haben uns mit allen Trägern Zeit genommen, um den Vergabeprozess zu erklären und einen gemeinsamen Kriterienkatalog zu entwickeln“, sagt Sylvia Greshake vom Jugendamt des Kreises Steinfurt. Die Kommunikation hat sich gelohnt: Am Ende haben alle Kitas und Tagespflegeeinrichtungen in Saerbeck mitgemacht.

Mittlerweile haben gleich mehrere Kommunen das Konzept getestet. In Saerbeck und Greven, aber auch in der Großstadt Kaiserslautern hat die Software funktioniert. In allen Versuchen konnten die Kitaplätze erheblich schneller und mit weniger Aufwand vergeben werden. Alle Einrichtungen, die bei den Testversuchen mitgemacht haben, wollen „Kita-Match“ daher auch künftig anwenden. Im Kreis Steinfurt werden für das kommende Jahr bereits mehr als 450 Betreuungsplätze per Algorithmus vergeben. Und Jugendamtschef Mike Hüsing kündigt an: „Wir wollen künftig alle Kitaplätze im Kreisjugendamtsbezirk über das neue Verfahren verteilen“.

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Andere Städte haben ebenfalls Interesse an der digitalen Lösung bekundet. Damit Thilo Klein und seine Forscherkollegen nicht hauptberuflich Kita-Vermittler werden, machen sie die neue Software demnächst für Kommunen frei verfügbar.

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