Hilfsprojekt „180-Grad-Wende“ für junge Immigranten

In Köln, der Stadt der Silvester-Übergriffe, haben Migranten ein besonderes Hilfsprojekt auf die Beine gestellt: Sie gehen auf junge Männer zu, die in Extremismus oder Kriminalität abdriften könnten.

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Mimoun Berrisoun bietet Migranten in Zusammenarbeit mit der Stadt Köln und der Kölner Polizei Coachings zu Konfliktverhalten, Umgang mit Drogen oder Berufsvorbereitung an. Quelle: dpa

Köln Mimoun Berrissoun (30) ist ein Mann, der seine Worte mit Bedacht wählt. Aber an einer Stelle wird er dann doch emotional. „Köln ist eine der schönsten Städte der Welt“, bricht es aus ihm heraus. Mimoun Berrissoun hat marokkanische Wurzeln. Er ist Muslim. Aber vor allem ist er Kölner.

Seit in der vergangenen Silvesternacht erneut mehr als 1.000 Nordafrikaner in Köln auftauchten, fragen dort alle nach dem Warum. Warum schon wieder Köln? Legten die jungen Männer es auf eine Machtprobe an? Ging es ihnen um ein Kräftemessen mit dem Rechtsstaat? Mimoun Berrissoun, Sozialwissenschaftler und Gründer der vielfach ausgezeichneten Initiative „180 Grad Wende“, glaubt nicht an solche Theorien. Er hält die Männer für unpolitisch. Auch mit dem Islam hat es nach seiner Überzeugung nichts zu tun.

„Die Wahrheit ist einfacher: Die wollten an Silvester was erleben, und Köln ist nun mal als Partystadt bekannt.“ Das Polizei-Aufgebot habe die Nordafrikaner nicht schrecken können, meint der Sozialwissenschaftler: „Wer sich übers Mittelmeer bis hierher vorgekämpft hat, oft durch mehrere Länder, der ist ganz andere Sachen gewohnt. Eine kurze Kontrolle macht denen nichts aus. Hauptsache, es passiert was. Hauptsache, es ist mal was los.“

Berrissoun ist kein Schönredner. Er sagt Sätze wie: „Kein anständiger Asylbewerber aus Nordafrika würde an solch einem Abend mit dem Zug nach Köln fahren.“ Oder: „Die Polizei musste durchgreifen, sie hat sehr gute Arbeit gemacht.“ Gleichzeitig betont er: „Es muss etwas geschehen.“ Die aggressiven jungen Nordafrikaner lassen sich nach seinen Erfahrungen in zwei Gruppen einteilen: Zum einen seien da die Berufskriminellen - um die müssten sich Polizei und Justiz kümmern. Zum anderen aber sei da die weitaus größere Gruppe der Mitläufer, die von den Intensivtätern rekrutiert werde. „Das Argument dabei lautet: „Ihr habt hier sowieso keine Perspektive. Euch bleibt gar nichts anderes übrig, als bei uns mitzumachen.““


„Staatliche Institutionen stoßen oft auf Misstrauen“

Das ist der Punkt, an dem Mimoun Berrissoun mit seiner Initiative ansetzt. Er will den jungen Männern durchaus eine Perspektive bieten. Darauf hat er sich seit 2013 allmählich spezialisiert, zusammen mit inzwischen mehr als 200 ausgebildeten Freiwilligen. „Wir wollen verhindern, dass junge Menschen in Extremismus und Kriminalität abgleiten.“ Dafür suchen die Helfer das persönliche Gespräch - in Schulen, Vereinen und Moscheen und auf öffentlichen Plätzen. Zusammen mit der Stadt Köln und der Polizei bieten sie Coachings zum Beispiel zu Konfliktverhalten, Umgang mit Drogen oder Berufsvorbereitung an.

„Entscheidend ist, dass die Freiwilligen selbst eine Zuwanderungsgeschichte haben“, sagt Berrissoun. „Staatliche Institutionen stoßen dagegen oft auf Misstrauen.“ Man müsse sich in die jungen Migranten hineinversetzen können. Berrissoun kann zum Beispiel nachempfinden, wie es ist, plötzlich ausgegrenzt zu werden. „Ich hab' das einmal erlebt, am Tag nach dem 11. September, als ich noch in Köln zur Schule ging“, erzählt er. „Da haben einige aus meiner Klasse zu mir gesagt: „Ihr wart das!“ Ich wurde voll rot. Das war ein Schlag ins Gesicht.“

Die große Stärke der Initiative sei die „peer-to-peer“-Ebene, sagt der städtische Jugendpfleger Manfred Kahl, also die Begegnung unter Gleichen. „Wenn ich mich sehr bemühe, dann bekomme ich vielleicht fünf Jugendliche zusammen, die mit mir ins Kölner NS-Dokumentationszentrum gehen, um dort über Grundwerte und Demokratie zu reden. Die Truppe da bekommt aber 30, 40 Leute zusammen.“ So kommen Verbindungen zu einer Community zustande, die man mit keinem Flyer und keinem Facebook-Auftritt erreichen kann.

Sogar der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan hat die Initiative der Kölner Migranten inzwischen ausgezeichnet. Das Bundesfamilienministerium unterstützt sie mit 124 000 Euro im Jahr. Das Projekt sei „eine Art Frühwarnsystem für junge Menschen in persönlichen Krisensituationen, aus denen sich Radikalisierungsprozesse ergeben können“, sagt ein Ministeriumssprecher. „Hass und Menschenfeindlichkeit setzen Akteure der „180 Grad Wende“ ein klares Bekenntnis zum friedlichen Miteinander entgegen.“

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