Historiker Heinrich August Winkler im Interview "Selbstkritisches Verhältnis zu unserer Geschichte"

Historiker Heinrich August Winkler über den zurückhaltenden Patriotismus der Deutschen und die unterschätzte Bedeutung des Nationalfeiertags am 3. Oktober.

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Historiker Heinrich August Winkler, 70, zählt zu den renommiertesten Historikern Deutschlands Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Professor Winkler, in diesem Jahr jährt sich der Fall der Mauer zum 20. Mal, seit 1990 begehen wir am 3. Oktober den Tag der Deutschen Einheit. Für Sie ein Grund zum Feiern?

Heinrich August Wnkler: Ja. Ich werde die Feierlichkeiten im Fernsehen verfolgen und mich an die Ereignisse erinnern, die zum Fall der Mauer und der deutschen Einheit führten und mir noch lebhaft im Gedächtnis sind. Was damals geschehen ist, hätte ich noch im Herbst 1989 nicht für möglich gehalten.

Die offizielle Feier findet turnusgemäß in Saarbrücken statt, vor dem Brandenburger Tor spielen mittelmäßige Bands, die Besucher erwarten lauwarme Würstchen, gesponsert von Unternehmen aus der Region. Warum feiern Sie nicht auf der Straße? Ist Ihnen diese Provinzialität peinlich?

Nein. Mit Provinzialität hat das auch nichts zu tun, eher mit angemessener Bescheidenheit. Ich finde es durchaus sympathisch, die zentrale Feier turnusmäßig der Obhut der Bundesländer zu übertragen – ein angemessener Hinweis auf den föderalen Charakter unseres Landes. Für Hurra-Patriotismus besteht kein Anlass.

Vor fünf Jahren wollte Hans Eichel, der damalige Bundesfinanzminister, den 3. Oktober als Feiertag schon mal streichen lassen. Wäre das, angesichts der mangelnden Begeisterung der Deutschen, nicht konsequent?

Nein. Das wäre ein völlig unangemessener Umgang mit einer historischen Leistung. Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde endlich das Doppelziel der gescheiterten Revolution von 1848 erreicht: Einheit in Freiheit. Wenn es einen Tag gibt, an dem alle Deutschen Grund zum Feiern haben, dann diesen.

Warum ist uns Deutschen der höchste Staatsfeiertag dann keine rauschende Party wert?

Partys hin oder her: Wichtig ist es, dass wir uns der historischen Bedeutung des 3. Oktober 1990 bewusst werden. Immerhin wurde an diesem Tag ein Jahrhundertproblem auf friedlichem Wege gelöst: die deutsche Frage. Erst seit diesem Tag ist wirklich klar, wo Deutschland liegt, wo seine Grenzen verlaufen, was dazu gehört und was nicht.

Nochmals: Warum können wir diesen Tag dann nicht angemessen feiern? Unsere Nachbarn in Frankreich, aber auch Amerikaner und Chinesen schaffen das doch auch.

Wir Deutsche können uns unsere Vergangenheit nun mal nicht aussuchen. Da haben es andere Länder leichter. Nehmen Sie die Franzosen: Der Sturm auf die Bastille, die Überwindung des Ancien Régime, die Berufung auf die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das sind doch ideale Voraussetzungen, um sich jedes Jahr mit Freude an das Wiegenfest der modernen Nation zu erinnern. Oder die Amerikaner, für die der 4. Juli die Erinnerung an die Erkämpfung der Unabhängigkeit und damit den Aufbruch in eine große Zukunft bedeutet. Die Geschichte der Deutschen dagegen war bis in die jüngste Vergangenheit von Niederlagen der freiheitlichen Kräfte geprägt.

Heinrich August Winkler:

In Ihrem neuen Buch "Geschichte des Westens" sprechen Sie von der "Schuld in der eigenen Geschichte" und die Frage, wie westliche Kulturen damit umgehen. Warum trauen wir uns noch immer nicht aus der Reserve?

Weil wir aus guten Gründen ein selbstkritisches Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte entwickelt haben. Nationaler Überschwang ist uns aus diesem Grund fremd geworden.

Wäre es, 70 Jahre nach Ausbruch des 2. Weltkriegs, nicht langsam an der Zeit, etwas entspannter mit unserem nationalen Selbstverständnis umzugehen, ohne sich deswegen gleich in die rechte Ecke stellen lassen zu müssen?

Die Erinnerung an die deutsche Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 bleibt ein zentraler Teil unseres Selbstverständnisses. Zu diesem gehört aber auch die Erinnerung an die freiheitlichen Traditionen der deutschen Geschichte. Ihr Symbol sind die Farben schwarz-rot-gold, und die sind heute, anders als in der Weimarer Republik, sehr populär.

Wo liegen die tieferen Gründe, die die Zurückhaltung der Deutschen in Sachen Patriotismus erklären?

Das zentrale Ereignis der älteren deutschen Geschichte war der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), der bis ins 19. Jahrhundert und teilweise darüber hinaus als nationales Trauma nachwirkte. Die Bismarcksche Reichsgründung von 1871 brachte den Deutschen die ersehnte Einheit, aber nicht die volle politische Freiheit. Eine parlamentarische Demokratie wurde Deutschland erst 1918 im Gefolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Deswegen galt die Demokratie vielen Deutschen als undeutsche Staatsform. Das war ein wichtiger Grund für Hitlers Wahlerfolge. Der extreme Nationalismus der Nationalsozialisten hat den deutschen Nationalismus dauerhaft entlegitimiert. Das wirkt bis heute nach. Erst nach 1945 erfolgte im Westen Deutschlands das, was Jürgen Habermas 1986 die "vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens" genannt hat.

Vielleicht ist der 3. Oktober ja einfach nur das falsche, weil bürokratisch von oben verordnete Datum, dem jede emotionale Verwurzelung in der deutschen Historie fehlt?

Nein. Den Termin hat zunächst die freigewählte Volkskammer der DDR am 23. August 1990 mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Es war der frühest mögliche Termin nach Abschluss der deutsch-deutschen und der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Der 3. Oktober steht für eine große Leistung aller Beteiligten – von den friedlichen Revolutionären in der DDR bis hin zu den Politikern und Diplomaten der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte. Der 3. Oktober 1990 bedeutet im übrigen nicht nur die Lösung der deutschen, sondern auch der polnischen Frage, eines anderen Jahrhundertproblems. Die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war eine wichtige Vorbereitung der Wiedervereinigung. Und auch daran sollten wir uns erinnern: Die friedliche Revolution, die im Herbst 1989 ganz Ostmitteleuropa erfasste, und 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands führte, hat im Sommer 1980 mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarnosc" in Polen begonnen.

Wäre der 9. November nicht dennoch das bessere Datum gewesen? An diesem Tag kommen ja viele Ereignisse zusammen, die die wechselhafte Geschichte unseres Landes facettenreich widerspiegeln.

In der Tat ist der 9. November eine Art Schicksalstag der Deutschen: der Fall der Mauer 1989, die Reichspogromnacht 1938, der Hitlerputsch 1923, das Ende der Monarchie durch die Ausrufung der Republik 1918 bis hin zur standrechtlichen Erschießung des überzeugten Demokraten Robert Blum 1848 in Wien – dieser Tag erinnert an viele Marksteine der deutschen Geschichte. Wir müssen uns diesen Widersprüchen stellen. Der 9. November ist ein deutscher Nachdenktag. Aber als Nationalfeiertag eignet sich ein so problematisches Datum nicht. Der 3. Oktober 1990 ist wirklich der Tag deutschen Einheit und darum der richtige Feiertag.

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