Holocaust-Gedenktag Holocaust-Überlebende floh aus Deutschland nach Israel – „Ich bin nie wieder zurückgegangen“

220.000 Holocaust-Überlebende wohnen acht Jahrzehnte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs noch in Israel. Eine davon ist die 103-jährige Eva Mendel.

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„Ich fühle mich noch als vergangene Deutsche.“ Quelle: dpa

Jerusalem Auf Eva Mendels Nachttisch steht ein schwarz-weißes Bild von ihrem Geburtshaus in Stettin - heute Szczecin in Polen. Die 103-jährige deutschstämmige Israelin ist seit ihrer Flucht vor den Nazis 1934 nicht mehr dort gewesen. Doch das Foto hütet die hochbetagte Dame wie einen Schatz. Auf dem runden Balkon des herrschaftlichen Hauses sind die winzigen Gesichter von drei Kindern zu sehen - Eva und ihre beiden Geschwister.

Auch an die Anschrift erinnert sie sich nach fast neun Jahrzehnten: Drei Eichen 2a. Mendel konnte selbst noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen, hat jedoch Angehörige im Holocaust verloren. In Israel wohnen acht Jahrzehnte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs noch rund 220.000 Holocaust-Überlebende. Dazu zählen auch Juden wie Mendel, die in den dreißiger Jahren gezwungen waren, Deutschland zu verlassen.

Am 27. Januar ist Internationaler Holocaust-Gedenktag. Ihren Lebensabend verbringt Mendel in einem Jerusalemer Altersheim. Wie steht sie nach all den Jahren zu ihren deutschen Wurzeln? „Ich fühle mich noch als vergangene Deutsche“, sagt sie mit einem Lächeln. „Ich bin ja schon von 1934 an bis jetzt hier.“ Mendel wirkt zerbrechlich, aber hellwach.

Geboren wird sie als Eva Dorothea Cohn, am 15. Januar 1916, mitten im Ersten Weltkrieg. In einem bunten Fotoalbum, das ihre Familie ihr zum 100. Geburtstag geschenkt hat, ist sie als lächelndes Baby zu sehen, das nackt auf einer Decke liegt. Doch die Idylle täuscht - in Mendels Geburtsjahr tobt bei Verdun in Frankreich eine der furchtbarsten Schlachten der Menschheitsgeschichte.

Auch Mendels Vater, der jüdische Anwalt Martin Cohn, kämpft auf deutscher Seite im Krieg gegen Frankreich. Er kommt an der Westfront ums Leben, als sie erst zwei Jahre alt ist. „Leutnant und Kompanieführer, Inhaber des Eisernen Kreuzes II. und I. Klasse“, steht in einer Todesanzeige vom 15. Juni 1918. „Er ist in Frankreich für Deutschland gefallen“, erzählt Mendel.

Auf einem Foto in dem Album ist zu sehen, wie er in Uniform stolz auf einem Pferd sitzt. In Stettin, Stadt an der Odermündung, leben im Jahre 1932 nach einer Zählung der jüdischen Gemeinde rund 2600 Juden. Acht Jahre später sind es noch 2300. Es handelte sich um eine „sehr langsame Abwanderung“, sagt der deutsch-israelische Historiker Moshe Zimmermann.

Stettin sei damals Teil des Deutschen Reichs gewesen und die dort lebenden Juden hätten sich nicht von anderen deutschen Juden unterschieden. „An dem deutschen Charakter Stettins konnte damals kein Zweifel bestehen“, sagt der emeritierte Professor von der Hebräischen Universität. Erst nach 1945 wurde Stettin zum polnischen Szczecin und die deutschen Bewohner vertrieben.

Mit 17 Flucht aus Deutschland

In der Mädchenschule in Stettin seien außer ihr nur ganz wenige Juden gewesen, erinnert sich Mendel. „Meine Schwester und noch ein paar Freundinnen.“ In ihrer Klasse habe sie antisemitische Anfeindungen von Mitschülerinnen erfahren. „Im Winter kam ich rein in die Klasse, da war auf dem Fenster alles beschlagen, und da waren überall Hakenkreuze angemalt“, erinnert sie sich.

Zu Beginn der 12. Klasse wird die 17-Jährige dann schriftlich informiert, dass sie die Schule wegen ihrer jüdischen Herkunft nicht mehr besuchen darf. Mendel flieht aus der Heimat und kommt 1934 ins damalige, noch sehr unwirtliche Palästina. Die Bewegung Aliat Hanoar hilft ihr dabei. Die in Berlin gegründete jüdische Organisation versucht, möglichst viele Kinder und Jugendliche vor den Nazis in Sicherheit zu bringen.

Im Kibbuz Ein Harod lernt Mendel erst einmal Hebräisch, später wird sie in Jerusalem zur Säuglingsschwester ausgebildet. In der Heimat wird die Lage unterdessen immer schlimmer: Beim Novemberpogrom 1938 geht die Stettiner Synagoge in Flammen auf. Insgesamt leben in Deutschland 1933, dem Jahr der Nazi-Machtergreifung, rund 525.000 Juden.

Zu Kriegsbeginn im Jahre 1939 sind es noch rund 200.000. Stettin sei 1940 die erste deutsche Stadt gewesen, aus der Juden vertrieben wurden, sagt Historiker Zimmermann. 1500 Juden werden in Lager in Polen deportiert. Ihre Mutter sei ihren drei Kindern nach Palästina gefolgt, während ihr zweiter Ehemann in Stettin zurückblieb, erzählt Mendel.

Er habe dort als Anwalt Juden „mit Geldangelegenheiten geholfen, er hat gesagt, er kann noch nicht weg“, sagt Mendel. „Der Kapitän verlässt als letzter das Schiff“, das waren seine Worte. Und das Schiff konnte er nicht mehr verlassen.“ Nach seiner Festnahme durch die Nazis sei ihr Stiefvater nach Polen verschickt worden, erzählt die 103-Jährige. „Und da ist er erschossen worden, im Wald.“

Neue Heimat: Palästina

Ihren zukünftigen Mann, Robert Mendel aus Hamburg, lernt sie 1941 als junge Frau bei einer Party in Jerusalem kennen. Er ist neun Jahre älter als sie. „Ich habe ihn im Mai kennengelernt, und im Herbst haben wir geheiratet.“

Robert ist ein Sohn des jüdischen Hamburger Senators Max Mendel. Max Mendel wird 1942 gemeinsam mit seiner Frau Ida und seiner Schwiegermutter ins KZ Theresienstadt deportiert, wo alle drei ums Leben kommen.

Während Adolf Hitler in der alten Heimat über Millionen Menschen Tod und Verderben bringt, versuchen die Mendels in Palästina, sich eine neue Heimat aufzubauen.

Joram, der erste Sohn, wird im Februar 1943 geboren. Mit ihm und ihrem zweiten Sohn Amos spricht Eva Mendel viel Deutsch, bis die Kinder in die Schule kommen. Viele Eigenarten, die als typisch deutsch gelten, hat sie sich bis ins hohe Alter bewahrt. „Sie ist immer wahnsinnig gerne gewandert und sie ist extrem diszipliniert“, erzählt ihre Enkelin Iris Mendel. „Sie isst als Süßigkeit jeden Tag genau ein halbes Stück Schokolade.“

Mendel ist auch eine große Hundefreundin. „Immer Hunde“, lautet eine Überschrift in ihrem Jubiläumsalbum, neben Bildern von verschiedenen Langhaardackeln. Schon 1976 geht sie als Säuglingspflegerin offiziell in Rente, als 60-Jährige. Sie habe danach aber noch weiter gearbeitet, bis sie über 90 Jahre alt war.

„Ich habe Geld verdient, musste man ja.“ Sie sei immer sehr gesund gewesen und habe bis ins hohe Alter Ausflüge gemacht, erzählt Mendel. Ihr Mann Robert ist schon 1986 gestorben. Ihre beiden Söhne und die Enkelkinder kümmern sich um die Witwe.

Was ist das Geheimnis ihres langen Lebens? „Ich war Sportlerin, habe gearbeitet und habe mich auch gut ernährt“, sagt sie. „Meine Geschwister haben nicht so lange gelebt.“ In Hamburg war sie 1992, ihr Geburtshaus in Stettin hat aber nur ihr Enkel besucht. „Ich bin nie wieder zurückgegangen.“

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