
WirtschaftsWoche: Mr. Bremmer, in der Welt zählen wir immer mehr blutige Konflikte – in der Ukraine, Syrien, dem Irak, auch Libyen ist alles andere als stabil. Ist diese Häufung bloß Zufall oder verändert sich da die Sicherheitsarchitektur der Welt?
Ian Bremmer: Ich sehe es nicht so, dass die Krisen weltweit häufigen. In der Nachbarschaft meines Heimatlands Amerika ist es relativ ruhig, rund um China ebenfalls. Krisen und Kriege konzentrieren sich auf Europas Umgebung. Aber in der Tat gibt es dafür einen tieferen Grund: Das Fehlen von globaler Führung. Die USA ziehen sich unter Obama zurück, die Chinesen weigern sich mitzugestalten, die Europäer sind mit sich selbst beschäftigt und fragen, was europäisch überhaupt bedeutet. In der Folge werden selbst kleine regionale Krisen wie der Terror von Islamisten-Milizen wie „Boko Haram“ oder Ebola zu größeren Krisen mit globaler Relevanz. Auch, weil wir zulassen, dass die schlimme ökonomische Lage wie in einigen Gesellschaften des Nahen Osten dem Extremismus den Boden bereitet.
Fürchten Sie den Kollaps der Weltordnung?
Nein, so weit würde ich nicht gehen. Die alte Weltordnung unter US-Führung ist Geschichte. Es gibt eine neue Weltordnung, in der niemand den Führungsanspruch erhebt. China mag wirtschaftlich eine Weltmacht werden, politisch wollen sie das nicht. Die Globalisierung geht weiter, aber die Amerikanisierung der Welt nicht. Das muss nicht zum Kollaps führen, die Welt wird nur komplexer. Darum ist auch die Münchner Sicherheitskonferenz so relevant nie zuvor.
Was sind die Folgen dieses Vakuums?
Ich sehe die große Gefahr einer Spaltung des Westens. Das können wir in der Ukraine-Krise sehen, wo der russische Präsident Wladimir Putin erfolgreich einen Keil zwischen Europa und Amerika getrieben hat. Europa und die Deutschen sind gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und auf Sanktionen gegen Russland konnte man sich nur einigen, als das Flugzeug MH-17 abgeschossen wurde. Die USA fahren eine viel härtere Linie, auch weil sie mit Russland kaum wirtschaftliche Verflechtungen haben. Ich will gar nicht beurteilen, was besser oder schlechter ist, aber wir sind gespalten. Und genau das will Putin.
Münchner Sicherheitskonferenz
Mehr als 400 Experten aus fast 80 Ländern. Darunter sind rund 20 Staats- und Regierungschefs sowie etwa 70 Außen- und Verteidigungsminister. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zum ersten Mal seit vier Jahren wieder dabei. Zu den prominentesten Teilnehmern zählen der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und US-Vizepräsident Joe Biden.
Ganz klar der Konflikt in der Ostukraine. Nach der Friedensinitiative von Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande ist die Sicherheitskonferenz die erste Gelegenheit, bei der hochrangige Vertreter Russlands und der Ukraine aufeinandertreffen können. Aus Kiew reist neben Poroschenko Außenminister Pawel Klimkin an. Aus Moskau ist Außenminister Sergej Lawrow dabei. Merkel, Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Laurent Fabius stehen als Vermittler bereit. Die USA sind mit Biden und Außenminister John Kerry vertreten. Sie alle werden in München übereinander reden. Inwieweit sie auch miteinander reden werden, ist noch offen.
Auf dem offiziellen Programm stehen am Samstag nacheinander Reden von Merkel, Biden, Lawrow und Poroschenko. Entscheidend wird sein, was nebenbei läuft. Mit Stand Beginn der Konferenz am Freitag war für Samstag nur ein Treffen Merkels mit Biden und Poroschenko geplant. Aber das kann sich bei solchen Konferenzen und angesichts der Dynamik der Entwicklung immer sehr schnell ändern. Bis zum Ende des Treffens am Sonntagnachmittag wird klar sein, inwieweit die neuen diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts Aussicht auf Erfolg haben.
Zweites großes Thema wird der Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat sein. Viele der rund 60 Mitgliedstaaten der Anti-IS-Allianz sind in München vertreten. Deutschland hat seine militärische Hilfe für die Kurden im Nordirak pünktlich zur Konferenz ausgeweitet. In der vergangenen Woche beschloss der Bundestag, bis zu 100 Militärausbilder in die Kurden-Hauptstadt Erbil zu schicken. Auch weitere Waffen sollen geliefert werden. Merkel trifft sich in München erstmals mit dem Kurden-Präsidenten Massud Barsani - ein ungewöhnlicher Termin, weil Barsani keinen Staat, sondern nur eine Region des Iraks vertritt.
Kaum. Über den Kampf gegen die islamistische Terrororganisation Boko Haram in Westafrika wird allenfalls am Rande gesprochen. Aus dem Afrika südlich der Sahara steht kein einziger Redner auf dem Tagungsprogramm. Aus Afghanistan reist Präsident Aschraf Ghani an. Aber die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft für den ungelösten Konflikt mit den radikalislamischen Taliban hat seit dem Ende des Nato-Kampfeinsatzes zum Jahreswechsel nochmals deutlich nachgelassen.
Was bringen denn die Sanktionen des Westens?
Die Sanktionen zwingen Putin nicht an den Verhandlungstisch. Sondern sie treiben die Russen in die Arme der Chinesen. Nicht, weil die Russen das unbedingt wollen, sondern weil ihnen nichts anderes übrig bleibt...
...wie würden Sie dann den Ukraine-Konflikt lösen?
Der Westen hätte vom Tag Eins der Krise an die Nato weiter stärken sollen. Das wäre für Putin wirklich schmerzhaft zu sehen gewesen. Moskau wird niemals verhandeln und somit zugeben, dass sie die Verantwortung für die Aggression in der Ost-Ukraine tragen. Vielmehr will der Kreml ein Veto-Spieler bei der geopolitischen Ausrichtung des Nachbarlandes bleiben. Beides kann Kiew unmöglich akzeptieren. Also wird es keine Lösung geben. Im besten Fall wird es gelingen, den Konflikt im Osten des Landes ein wenig abzukühlen oder einzufrieren.
Was erwarten Sie von der Reisediplomatie von Angela Merkel und Francois Hollande?
Man kauft sich ein paar Tage Zeit, vielleicht sogar ein paar Wochen. Putin wird sich wahrscheinlich bedanken und das alles sehr konstruktiv finden, sich für die Bemühungen bedanken, einen Ausweg aus dem Bürgerkrieg in der Ukraine zu suchen. Eine wirkliche Lösung wird die Reise nicht bringen. Es ist gut, dass die Deutschen und die Franzosen dort sind. Noch besser wäre es aber, wenn die Amerikaner auch dabei wären.
US-Senator John McCain kritisiert scharf, dass sich Deutschland gegen Waffenlieferung an die Ukraine sperrt. Er vergleicht Merkels Bemühungen mit der Appeasement-Politik der Dreißigerjahre. Geben Sie ihm Recht?
Wir wissen doch, dass McCain viele Länder bombardieren will. Aber helfen Waffenlieferungen der Ukraine wirklich dabei, unabhängig zu bleiben? Oder will McCain sie vielleicht nur, damit er sich selbst am Ende besser fühlt? Es ist doch offensichtlich, dass es ihm um Letzteres geht.
Wie geht man mit einem Mann wie Putin um, der sich an keine Regeln halten will?
Natürlich ist der Mann eine Herausforderung für die Sicherheit. Und Putin zusammen mit China ist eine globale geopolitische Bedrohung und ein potenziell destabilisierender Faktor. Aber der Westen kann nicht wirklich mit Russland verhandeln, solange er nicht akzeptiert, auch eine Verantwortung für den Konflikt zu tragen.
Wie meinen Sie das?
Der gestürzte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch wollte das Assoziierungsabkommen mit der EU, doch Brüssel wollte der Ukraine nicht einen Cent an wirtschaftlicher Unterstützung geben. Dann kam Moskau mit 15 Milliarden Dollar. Diese Krise ist auch entstanden, weil alle in Europa zunächst dachten, die Ukraine spiele keine Rolle. Als das Land für Russland dann wichtig wurde, war es das auf einmal auch für die Westeuropäer. Auch heute will keiner dem Land wirklich helfen – sondern Europa will Russland abstrafen.