IG Metall Die Zurückhaltung ist vorbei

Die IG Metall überzieht das Land mit Warnstreiks, auch in anderen Branchen laufen sich die Gewerkschaften warm. Die Lohnabschlüsse 2012 dürften so hoch ausfallen wie seit Jahren nicht mehr. Das freut die Beschäftigten – birgt aber Risiken für Arbeitsmarkt und Inflation.

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Gewerkschaftler demonstrieren bereits am Sonntag, dem 29.04.2012 vor dem Osram-Werk in Berlin. Die Warnstreiks sind Maßnahmen der IG Metall im Tarifkonflikt mit den deutschen Schlüsselindustrien Metall und Elektronik. Quelle: dpa

Die IG Metall macht ernst. Nachdem die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie vorerst gescheitert sind, überzieht sie das Land nun mit einer Warnstreikwelle. Heute gibt es erste Arbeitsniederlegungen in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen, ab Mittwoch dann sollen bundesweit viele Unternehmen für einige Stunden bestreikt werden. Die IG Metall fordert 6,5 Prozent mehr Lohn, eine Übernahmepflicht für Azubis und mehr Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte beim Einsatz von Zeitarbeitern.

Auch in anderen Branchen stehen die Zeichen auf Sturm. In der Chemieindustrie, wo für kommende Woche ein Spitzengespräch anberaumt ist, will die Gewerkschaft IG BCE sechs Prozent mehr Geld herausholen. Unlängst trotzten die Kollegen von Verdi den öffentlichen Arbeitgebern von Bund und Kommunen 6,3 Prozent für die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst ab, verteilt auf zwei Jahre.

Reallöhne sind Konsumrelevant

Was bedeutet der Tarifstreit für die Wirtschaft? Wo der gerechte Lohn liegt und wie steigende Arbeitskosten auf die Volkswirtschaft wirken, zählt zu den umstrittensten ökonomischen Fragen überhaupt. Zweifellos müssen die Arbeitnehmer angemessen und fair am Erfolg ihrer Unternehmen beteiligt werden. Klar ist auch, dass stagnierende oder gar sinkende Reallöhne den Konsum schwächen – und damit einen zentralen Eckpfeiler unseres Bruttoinlandsprodukts.

Doch zum einen war die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre ein wesentlicher Baustein des deutschen Arbeitsmarktwunders. Zum anderen kommt von steigenden Bruttolöhnen bei den Arbeitnehmern abgaben- und progressionsbedingt nur ein Teil an - während er bei den Unternehmen voll auf die Kosten durchschlägt. Auch die gängige Lohnformel, wonach sich der Verteilungsspielraum aus dem Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Produktivität und der Inflationsrate zusammensetzt, ist ökonomisch nicht unumstritten. Wenn Unternehmen weniger produktive Mitarbeiter entlassen, weil steigende Löhne deren Arbeitsplätze unrentabel machen, erhöht dies gesamtwirtschaftlich gesehen die Produktivität. Auch die Inflationsrate betrachten viele Ökonomen als unvollkommenen Indikator für den Verteilungsspielraum.

Hohe Lohnabschlüsse sind die Zukunft

Ein Beschäftigter der Metall- und Elektroindustrie steht in Hamburg mit einem 6,5 Prozent-Schild bei einer Kundgebung. Die IG Metall fordert 6,5 Prozent mehr Lohn, eine Übernahmepflicht  für Azubis und mehr Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte beim Einsatz von Zeitarbeitern. Quelle: dpa

Für den Anstieg der Verbraucherpreise sind häufig staatlich administrierte Preise mitverantwortlich (etwa für Nahverkehr, Trinkwasser und kommunale Dienste), hierbei landet kein Cent in Form gestiegener Erlöse in den Kassen der Industrie. Auch steigende Importpreise, etwa für Öl, kommen der deutschen Volkswirtschaft nicht zugute, können also eigentlich nicht „verteilt“ werden. Hohe Lohnabschlüsse machen Arbeit im Vergleich zu Kapital zudem relativ teurer – und erhöhen den Anreiz, Jobs durch Maschinen zu ersetzen oder ins billigere Ausland zu verlagern. Dies gilt insbesondere für den Low-Tech-Bereich und einfache Tätigkeiten.

Die Kernrate der Inflation (ohne Energie- und Nahrungsmittelpreise) dürfte 2012 bei etwa 1,5 Prozent liegen, der gesamtwirtschaftliche Produktivitätszuwachs bei etwa 1,0 Prozent. Daraus ergibt sich in verteilungsneutraler Spielraum für Lohnsteigerungen von etwa 2,5 Prozent. In der Realität dürfte es deutlich mehr werden. In der Metallindustrie dürfte am Ende mindestens eine Vier vor dem Komma stehen. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, sieht darin sogar einen Trend und sagt einen „fundamentalen Wechsel in der deutschen Lohnpolitik“ voraus. Krämer: „Die Ära sehr niedriger Lohnabschlüsse ist vorbei.“ Der Ökonom geht davon aus, dass Löhne und Preise in Deutschland in den kommenden Jahren stärker steigen als im Euroraum insgesamt. In der für Inflationsbekämpfung zuständigen Europäischen Zentralbank (EZB) wachsen bereits die Ängste vor einer Lohn-Preis-Spirale in Deutschland.

Eine vernünftige Lösung ist gesucht

Die Gewerkschaften dürfen daher nicht überziehen und schon gar nicht in eine Nachschlagsdebatte einsteigen. Fakt ist: Die Globalisierung hat zu einem enormen Wettbewerbsdruck für deutsche Unternehmen geführt, der eine differenzierte Lohnpolitik erfordert. Um auch künftig im globalen Konkurrenzkampf bestehen zu können, benötigen die Unternehmen eine noch stärker ertrags- und betriebsorientierte Form von Tarifpolitik. Beispiele dafür gibt es bereits. Bei Continental etwa haben Konzern und Arbeitnehmervertreter eine Betriebsvereinbarung geschlossen, die feste Kennzahlen zur Berechnung eines Jahres-Bonus festlegt. Continental schüttet für 2011 eine Erfolgsbeteiligung von rund 70 Millionen Euro aus.

Ein Abschluss mit einer moderaten linearen Erhöhung, gepaart mit Einmalzahlungen und Arbeitnehmer-Boni, die bei einer guten wirtschaftlichen Lage des Betriebs durchaus üppig ausfallen dürfen – dies wäre eine Tarifpolitik, die gleichermaßen Jobs und Konsum sichert.

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