IG Metall fordert Sozialreformen Aufwärts immer, abwärts nimmer

Mit Forderungen nach einem umfassenden fürsorgenden Sozialstaat positioniert sich die IG Metall vor der Bundestagswahl. Und bereitet den Boden für Rot-Rot-Grün. Ein Kommentar.

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IG-Metall-Chef Jörg Hofmann fordert ein radikales Umsteuern in der Sozialpolitik. Quelle: dpa

Berlin Der Winter hat noch gar nicht angefangen, doch es fröstelt in Deutschland: Glaubt man der IG Metall, dann macht sich soziale Kälte breit. Ein Viertel der Beschäftigten schufte im Niedriglohnsektor zu Hungerlöhnen und rutsche im Alter in die Armut, beklagt die Gewerkschaft. Die Kluft zwischen Vermögenden und Habenichtsen sei so groß wie zu Zeiten des wilhelminischen Kaiserreichs. Der Bildungsaufstieg aus Arbeiterfamilien gelinge nicht – einmal Proletarier, immer Proletarier. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Das Wohlfahrtsversprechen gelte heute für immer weniger Menschen und werde brüchig, sagt IG-Metall-Chef Jörg Hofmann. Dem Sozialstaat gelinge es nicht mehr, „soziale Verwerfungen und Ungerechtigkeit auszugleichen“ – er habe deshalb ein „Legitimationsproblem“.

Nötig sei ein „radikales Umsteuern“, eine Abkehr von Gerhard Schröders Agenda-Reformen, sagt Hofmann. Zwei Tage lang hat die IG Metall in Berlin mit der Crème de la Crème des Fürsorgestaats über den „Sozialstaat 4.0“ diskutiert, mit Gewerkschaftern, Betriebsräten, Wissenschaftlern, Chefs von Wohlfahrtsverbänden und der SPD-Arbeitsministerin. Spätestens jetzt ist klar: Deutschlands größte Gewerkschaft will zurück in die Zukunft. Arbeitgeber waren nicht eingeladen – wohlweislich, möchte man meinen, halten doch die Vorstellungen der IG Metall einige Zumutungen für sie bereit.

Die Unternehmer sollen sich den individuellen Arbeitszeitwünschen ihrer Beschäftigten beugen und ihnen Lohnausgleich für Pflege- oder Bildungsauszeiten zahlen. Betriebsräte will die IG Metall künftig überall mitentscheiden lassen, bei Qualifizierungsprogrammen genau wie beim Outsourcing von Unternehmensteilen oder bei der Frage, ob nicht zusätzliches Personal eingestellt werden muss, wenn das Überstundenkonto im Betrieb anwächst.

Wer durch die Digitalisierung abgehängt zu werden droht oder leider nur einen schlechten Schulabschluss geschafft hat, kann sich auf Kosten des Chefs beruflich fortentwickeln oder gar umorientieren. Man sieht Werkshallen vor sich, in denen die Hälfte der Maschinen durch Schulbänke ersetzt wird. Leistung müsse sich wieder lohnen, sagt die Gewerkschaft.

Ähnlich hoch wie die Erwartungen an die Unternehmen sind die an den Staat und die Steuer- und Beitragszahler. Hartz-IV-Empfänger sollen nicht mehr den erstbesten Job annehmen müssen, sondern auf Kosten des Steuerzahlers umfassend qualifiziert werden – natürlich bei gleichzeitig steigenden Hartz-IV-Sätzen. Mit Geld aus der Arbeitslosenversicherung sollen sich Beschäftigte präventiv auf den Strukturwandel in der Wirtschaft vorbereiten und beruflich umorientieren können. Das gesetzliche Rentenniveau soll natürlich angehoben, die Rente mit 63 dauerhaft festgeschrieben werden: ein Wünsch-dir-was ohne Rücksicht auf die Abgabenbelastung, die sich schon heute wieder bedrohlich der 40-Prozent-Marke nähert.


Was fehlt? Eigeninitiative

Was man in dem 28-seitigen Positionspapier der IG Metall zur kommenden Bundestagswahl vermisst, ist das Wort Eigeninitiative. Viel ist von der Verantwortung der Unternehmer und der Politik die Rede, wenig von der der Beschäftigten. Aber das Leistungsversprechen der sozialen Marktwirtschaft setzt nun mal auch Eigenleistung voraus. Weiterbildungsanspruch etwa steht schon heute im Gesetz, wird aber von den Beschäftigten wenig nachgefragt.

Statt Mitarbeiter mit einer Antistressverordnung zu schützen, tut es ja vielleicht auch der Appell, das Smartphone nach Feierabend einfach mal abzuschalten. Und muss man Männer wirklich mit einer staatlich bezuschussten Familienarbeitszeit dazu bewegen, beruflich kürzer zu treten, damit auch ihre Frauen zum Zuge kommen? Könnten die Paare das nicht einfacher untereinander regeln?

Die IG Metall will zurück in den Fürsorgestaat der Ära vor der Agenda 2010. Ein Fürsorgestaat, der die Menschen von der Schulbank bis zur Rente umsorgt und behütet. Verlierer soll es nirgendwo mehr geben, aufwärts immer, abwärts nimmer. In dieser allumfassenden Sicht wird das Wohlfahrtsversprechen aber schlicht unbezahlbar.

Trotzdem steht zu erwarten, dass Teile des gewerkschaftlichen Wunschkonzerts Eingang ins Wahlprogramm der SPD finden werden. Schon die Rente mit 63 oder die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen in dieser Legislaturperiode tragen die Handschrift der einflussreichen Gewerkschaft. Die Union wird zu verhüten wissen, dass sie noch einmal den Koalitionsvertrag diktiert. Als Einheitsgewerkschaft ist die IG Metall politisch neutral. Aber was sie hier vorgibt, ist die Agenda für Rot-Rot-Grün.    

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