Impfanreize durch „Nudging“ „Das kann schnell eine manipulative Note bekommen“

Quelle: imago images

Warum bringt ausgerechnet eine Bratwurst Menschen zur Impfung? Entscheidungsforscher Ralph Hertwig erklärt, wie Verhalten beeinflusst werden kann, warum radikale Impfgegner schwer zu erreichen sind – und wie man gute Entscheidungen trifft.

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Ralph Hertwig ist Psychologe und Direktor des Bereichs „Adaptive Rationalität“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

WirtschaftsWoche: Herr Hertwig, Sie beschäftigen sich als Forscher intensiv damit, wie Menschen Entscheidungen treffen. Nun bringt eine Bratwurst mehr als 400 Menschen im thüringischen Sonneberg dazu, sich impfen zu lassen – weil es die Wurst nach der Spritze kostenlos dazu gab. Überrascht Sie dieser Erfolg?
Ralph Hertwig: Nein, gar nicht. Manchen Menschen nimmt die traditionelle Wurst womöglich die Sorge vor der neuen Impfung. Andere freuen sich einfach über einen kostenlosen Snack oder etwas Geselligkeit. Was sie genau bewegt hat, weiß ich nicht, denn wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirkung der Wurst sind mir nicht bekannt. Aber die Idee ist schön und offensichtlich erfolgreich.

Nudging“ wird es von Verhaltens- und Entscheidungsforschenden genannt, wenn Menschen durch Anstupsen zu einem bestimmten Verhalten gebracht werden sollen. Ist die Wurst also der perfekte Schubs zur Spritze?
Nein, denn beim „Nudging“ geht es darum, Menschen zu einem Verhalten zu bringen, ohne ökonomische Anreize einzusetzen. Und eine kostenlose Wurst ist ein finanzieller Anreiz, weil man etwas zu essen bekommt, ohne dafür zu bezahlen. Aber ich mag das Konzept des „Nudgings“ ohnehin nicht besonders.

Warum sind Sie kein Anhänger des „Nudgings“?
Anders als beim „Boosting“, das Menschen dabei unterstützen möchte, sich bewusst und eigenverantwortlich zu einem für sie vorteilhaften Verhalten zu motivieren, richtet sich das „Nudging“ oft nicht an das bewusste Denken, sondern unterläuft es sogar. Stattdessen soll die Umgebung so verändert werden, dass sich jemand auf die – vom „Nudger“ – gewünschte Weise verhält. Menschen werden also in eine bestimmte Richtung gestupst, teils ohne zu merken, dass sie diesen Schubser bekommen.

Zu erleben ist das etwa bei jedem Supermarktbesuch, wo teure Produkte auf Augenhöhe platziert und deshalb eher gekauft werden als die unten im Regal.
Zu kommerziellen Zwecken wird „Nudging“ schon lange eingesetzt, das Supermarktbeispiel ist da sicher eher harmlos. Aber was ich an dem Konzept des „Nudgings“ nicht mag, ist die grundsätzliche Idee dahinter: „Ich weiß, was am besten für dich ist.“ Das kann schnell eine paternalistische, eine bevormundende, gar eine manipulative Note bekommen.

Nudging wird auch in der Politik immer häufiger genutzt: Barack Obama hat im Weißen Haus eine Nudge-Einheit eingerichtet, in Großbritannien berät ein Nudging-Team den Premierminister. Auch Angela Merkel beschäftigt seit 2015 im Kanzleramt ein Referat mit Verhaltensforschern. Was bringt die Einbindung solcher Verhaltensexperten?
Wenn es beispielsweise darum geht, wie man Verwaltungsprozesse gestaltet oder Informationen so vermittelt, dass sie verständlich sind, dann muss man ja nicht raten, sondern kann Verhaltensforscher fragen. Staatliches Handeln sollte sich immer an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Die Pandemie zeigt, wie wichtig die Beratung durch Wissenschaftler ist. Entscheiden muss natürlich schlussendlich die Politik.

Die Einheit im Kanzleramt sieht sich explizit nicht als Nudger.
Aus meiner Sicht gibt es tatsächlich einen Unterschied im internationalen Vergleich. Die Amerikaner und Briten machen mehr Gebrauch vom „Nudging“ und den Verhaltenswissenschaften allgemein. In Deutschland ist gerade vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung mit hochmanipulativen und autoritären Regimen die Zurückhaltung dagegen deutlich größer. Hier geht es eher darum, nicht über die Köpfe der Bürger und Bürgerinnen hinweg, sondern in einem Diskurs mit ihnen Lösungen entwickeln, die dann eher zu einem bestimmten, gemeinsam ausgehandelten Verhalten führen.



Dass dieses Vorgehen an seine Grenzen kommt, zeigt die stockende Impfkampagne, in die die Verhaltensforscher aus dem Kanzleramt noch nicht mal eingebunden sind.  
Dafür ist das Team aber womöglich auch zu klein und es fällt zudem nicht in ihren Aufgabenbereich. Aber das Beispiel zeigt sicher, dass Deutschland im Vergleich zu Amerika und Großbritannien noch hinterherhinkt, bei großen gesellschaftlichen Problemen enger mit der Verhaltensforschung zusammen zu arbeiten.

Haben Sie neben der Pandemie ein weiteres Beispiel?
Noch immer gibt es in Deutschland häufig die Überzeugung, dass wir den Klimawandel mit Hilfe von Ingenieur- und Naturwissenschaften bewältigen können. Klar wird das ohne neue Technologien und weniger Ressourcenverbrauch nicht gelingen, aber es gibt eben auch die Komponente menschliches Verhalten, das sich ändern muss. Wie sehr wir durch unser Verhalten den Ausgang einer großen Krise beeinflussen können, sehen wir ja gerade an Corona. Insofern sollte Deutschland nicht die Chance verpassen, das Wissen der Verhaltensforschung zu nutzen. Aus meiner Sicht wäre es deshalb ein großer Fehler, wenn der nächste Kanzler, die nächste Kanzlerin das Referat nicht weiter fortführen und mit deutlich mehr Mitteln ausstatten würde. 

Wie groß sollte die Einheit im Kanzleramt denn idealerweise sein, um tatsächlich etwas bewirken zu können?
Es geht gar nicht allein um die Regierungszentrale. Unsere Nachbarn in den Niederlanden binden bereits auf kommunaler Ebene ganze Teams von Verhaltensforschern und -forscherinnen ein. Wie kann erreicht werden, dass weniger Abfall entsteht, weniger gemeinschädliche Sachbeschädigung stattfindet oder die Aggressivität im öffentlichen Nahverkehr abnimmt? Darüber machen sich dort die „Behavioural Insight Teams“ Gedanken. In meinen Augen sollten die verhaltenswissenschaftlichen Rezepte und Ideen aber immer gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutiert werden. Denn Ziele werden oft dann erfolgreich erreicht, wenn sich Menschen auf dem Weg dahin mitgenommen fühlen.

Müssen sich die Menschen auch bei der Impfkampagne besser mitgenommen fühlen? 
Wichtig ist, wer zu einer Entscheidung bewegt werden soll. Diejenigen, die sich unbedingt impfen lassen wollte, werden inzwischen geimpft worden sein. Diejenigen, die sich auf gar keinen Fall impfen lassen wollen, sind kaum zu überzeugen. Also muss man sich nun auf den Teil der Bevölkerung konzentrieren, der eine schwache Intention zur Impfung hat. Mit Strafen werden diese Menschen sich nicht überzeugen lassen. Umso wichtiger ist es, Anreize zu schaffen.

Welche Entscheidungshilfen empfehlen Sie?
Menschen mit geringer Impflust werden sich kaum selbst auf den Weg zur Impfung machen, geschweige denn Termine buchen wollen. Wenn der Menschen nicht zur Impfung kommt, muss die Impfung also zum Menschen gebracht werden. Mit mobilen Impfteams vorm Supermarkt etwa. Darüber hinaus hat eine Studie in den USA gezeigt, dass Textnachrichten aufs Handy einen Effekt haben können. Dafür wurden 19 verschiedene Varianten in Verbindung mit einer Erinnerungs-SMS an einen Arztbesuch getestet.

Welche Nachricht hat die meisten Menschen überzeugt, sich doch impfen zu lassen?
Besonders gut kamen nicht etwa die Nachrichten an, in denen an die Solidarität oder den eigenen Gesundheitsschutz appelliert wurde. Sondern eine Nachricht, in der es 72 Stunden vor dem Arzttermin hieß, dass in der Praxis eine Dosis für den Empfänger reserviert ist – ohne zu sagen, dass man die Impfung annehmen muss. Eine weitere Erinnerungs-SMS 24 Stunden vor dem Termin mit dem Hinweis auf die Reservierungen folgte. Wer diese Nachricht bekam, hat sich im Vergleich zu anderen textbasierten Botschaften deutlich häufiger für die Impfung entschieden. Vielleicht wäre es deshalb eine gute Idee, solche Erinnerungen auch in Deutschland zu verschicken, etwa über die Corona-Warn-App.

Und die radikalen Impfgegner?
Wer das Vertrauen in den Staat weitgehend oder völlig verloren hat oder hinter jedem staatlichen Handeln etwas Böses vermutet, der wird sich kaum überzeugen lassen. Auch Strafen oder eine Impfpflicht führen dann womöglich nur zu einer noch größeren Radikalisierung. Das Fatale ist, dass sich solche Menschen oft bei Facebook und auf Youtube informieren – und dort per Logarithmus möglicherweise in erster Linie die Informationen oder auch Falschinformationen bekommen, die sie in ihren Ansichten bestätigen.

Echokammern, aus denen sie sich kaum noch  herausbewegen? 
Die kommerzielle Jagd auf die begrenzte Aufmerksamkeit der Nutzer und Nutzerinnen hat zu Algorithmen geführt, die nicht in erster Linie solide Information und Meinungsvielfalt fördern, sondern solche Inhalte, die unsere Aufmerksamkeit möglichst gut in Geiselhaft nehmen können. Das ist eine kommerzielle Form des Nudgens. Dynamik hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Weltgesundheitsorganisation heute von einer Infodemie spricht, also einer Flut von Desinformation und Falschbehauptungen zu Corona.

Blicken Sie trotzdem optimistisch in den Herbst?
Wenn die Politik jetzt alle Hebel in Bewegung setzt, von Bratwürsten to go über gute und transparente Information, die auch Unsicherheit anerkennt, bis zu mobilen Impfteams, dann wird man hoffentlich noch einen großen Teil der bisher unentschlossenen Menschen erreichen können.

Haben Sie am Ende als Entscheidungsforscher noch einen grundsätzlichen Tipp, wie man gute Entscheidungen trifft?
Es gibt leider nicht den einen Tipp. Selbst wenn es sich wie eine Binsenweisheit anhört: Ich habe für mich festgestellt, dass ich ausgeruht und mit zeitlichem Abstand Dinge klarer sehe.

Mehr zum Thema: Das Kanzleramt beschäftigt ein Team von Verhaltensforschern – bindet es aber nicht in die Impfkampagne ein. Dabei sucht die Regierung doch noch dringend Strategien zur Motivation der Deutschen.

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