Impfen ohne Priorisierung Hausärzte-Chef: „Von Biontech bleibt nichts übrig“

Ansturm auf die Praxen: Hausärztinnen und -ärzte wie Nicola Buhlinger-Göpfarth (r.) aus Pforzheim dürfen ab Montag ohne Priorisierung impfen. Doch noch immer mangelt es an Impfstoff wie Biontech.   Quelle: dpa

Bundesweit wird zum 7. Juni die Impfpriorisierung aufgehoben, haben Bund und Länder beschlossen. Damit werden falsche Erwartungen geweckt, warnen die Hausärzte. Sie fürchten Chaos – auch wegen der Pläne zum digitalen Impfausweis.

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Ulrich Weigeldt ist Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. Der Facharzt für Allgemeinmedizin arbeitet als niedergelassener Hausarzt in Bremen.

WirtschaftsWoche: Herr Weigeldt, in Berlin und Baden-Württemberg ist ab Montag die Impfpriorisierung in den Hausarztpraxen aufgehoben, am 7. Juni wird bundesweit die Impfpriorisierung fallen gelassen. Wie gut sind die Hausärztinnen und Hausärzte darauf vorbereitet?
Ulrich Weigeldt: Inzwischen sind wir es ja gewohnt, dass am Ende der Woche Entscheidungen getroffen werden, die wir dann am Montag umsetzen müssen. Insofern werden wir auch damit sicher umgehen können.

Ist die Entscheidung der Aufhebung denn grundsätzlich richtig?
Die Entscheidungsfreiheit hätte schon vorher größer sein müssen. Denn die Hausärztinnen und -ärzte kennen ihre Patientinnen und Patienten gut, sie wissen, wer wie alt ist, wie die Lebensverhältnisse sind und welche individuellen Risiken es gibt. Statt nun einen spektakulären Stichtag zu setzen, hätte ich mir ein langsames Auslaufen der Priorisierung gewünscht. Denn nun werden falsche Erwartungen geweckt.

Sie fürchten, dass viele Menschen nun auf eine sofortige Impfung bestehen und die Praxen belagern?
Die Telefone haben ja schon vorher nicht stillgestanden. Zum einen, weil die Reihenfolge nicht mehr für AstraZeneca galt, dazu kamen die verschiedenen Priorisierungsgruppen. Jetzt wird die Nachfrage noch größer werden. Natürlich verstehen wir das – auch wir wollen so viele Menschen so schnell wie möglich impfen. Wenn die Leute jetzt aber alle Praxen abtelefonieren und sich auf Listen schreiben lassen, ohne die Termine dann nach einer Zusage abzusagen, führt das zu einer enormen Belastung, insbesondere für unser Praxispersonal am Empfang. Bei allem Verständnis für die Ungeduld vieler Menschen, sich nun endlich impfen lassen zu wollen, werden wir viele Impfwillige zunächst sicher auch enttäuschen müssen.

Weil es weiter an Impfstoff mangelt?
Es mangelt vor allem an Biontech. Den Impfstoff wollen alle haben, davon bekommen wir aber pro Woche gerade einmal sechs Fläschchen pro Praxis, das sind 36 Dosen. Die sind an einem Vormittag verimpft. Von Biontech bleibt nichts übrig. Bei AstraZeneca kann es dagegen schon mal sein, dass man da am Freitagnachmittag sitzt und noch einige Dosen übrig hat, weil ein paar Leute doch nicht gekommen sind. Aber dann telefonieren wir unsere Listen durch. Weggeworfen werden sollte nichts. 

Haben Sie gute Argumente parat, die Impflinge doch von AstraZeneca zu überzeugen?
Das beste Argument ist sicher, dass ich selbst mit AstraZeneca geimpft bin. Und wenn ich dazu erkläre, wie viel höher das Risiko einer Corona-Erkrankung ist und wie gering das Risiko von Nebenwirkungen bei AstraZeneca, kann ich den meisten Patienten auch ihre Sorgen nehmen.

Die Beliebtheit von AstraZeneca dürfte allerdings kaum steigen mit Blick auf die Lockerungen, die für vollgeimpfte Menschen gelten sollen. Bis zum vollen Impfschutz dauert es bei AstraZeneca 14 Wochen. Österreich geht deshalb einen anderen Weg, dort gilt man schon nach der ersten Spritze als vollgeimpft. Ist das eine gute Idee?
Ja, dieses Vorgehen würde ich auch für Deutschland empfehlen. Ansonsten gibt es das Dilemma: Entweder wird AstraZeneca erst gar nicht gewählt. Oder jemand will die zweite Impfung schon nach vier Wochen haben. Das ist aber nicht nur sinnlos, sondern kann sogar negative Effekte haben. Deshalb kann für AstraZeneca gerade ein positiver Anreiz gesetzt werden, wenn nach der ersten Spritze schon die gleichen Freiheiten gelten wie für diejenigen, die zwei Dosen Biontech oder Moderna bekommen haben.

Aber wägt man sich dann nicht in falscher Sicherheit?
Selbstverständlich darf für den vollen Impfschutz nicht auf die zweite Dosis verzichtet werden. Aber tatsächlich wird schon nach der ersten Impfung mit einem Vektorimpfstoff wie AstraZeneca die Produktion der T-Zellen angeregt, sodass bei einer Erkrankung mit Covid-19 sofort Antikörper gebildet werden. Der Impfschutz ist also schon sehr hoch. Die zweite Impfung soll dann die längere Wirksamkeit der Impfung garantieren. Bei einem mRNA-Impfstoff wie Biontech oder Moderna gibt es sofort erste Antikörper, die zweite Impfung dient dann dem Booster, damit noch mehr Antikörper produziert werden.

Die Aufhebung der Priorisierung gilt zunächst für die Hausärzte. Wie lange werden die Impfzentren überhaupt noch gebraucht?
Finanziert sind sie erstmal bis September, der ein oder andere Landrat will sicher auch danach noch seine Turnhalle bezahlt bekommen. Aber ich denke, dass die Impfzentren bald nicht mehr gebraucht werden – nicht etwa, weil das Coronavirus verschwindet. Im Gegenteil. Das wird bleiben. Aber wir werden die Auffrischungsimpfung dann in die Routineimpfung integrieren. Ideal wäre es, die Corona-Auffrischung mit der Grippeschutzimpfung kombinieren zu können. Dann hätte man gleich zwei wichtige Schutzimpfungen auf einen Schlag erledigt.

von Sonja Álvarez, Max Haerder, Cordula Tutt, Jürgen Salz

Auch Kinder ab 12 Jahren sollen bald geimpft werden können. Sollte für sie wieder eine Priorisierung eingeführt werden, etwa mit Blick auf das Schuljahr?
Viel wichtiger als das Schuljahr ist für Kinder und Jugendliche, dass sie wieder ihren Alltag zurückbekommen. In den Kinder- und Jugendjahren lernen sie das soziale Leben. Dass sie so sehr aus dem Blick geraten sind, macht mich völlig fertig. Deshalb kann ich es auch nicht verstehen, dass die Ständige Impfkommission (STIKO) so zögerlich mit ihren Empfehlungen ist. Sobald die europäische Zulassungsbehörde EMA die Impfstoffe für die Altersgruppe der 12- bis 15-Jährigen zugelassen hat, sollten die Kinder auch hierzulande entsprechend geimpft werden können.

Derzeit gibt es mehr Impfwillige als Impfstoff, das könnte sich aber bald schon ändern. Um Herdenimmunität zu erreichen, müssen aber womöglich auch Impfskeptiker erreicht werden. Eine Expertengruppe von der LMU schlägt deshalb ein Anreizsystem für Mediziner mit zusätzlichen Erstattungen vor, damit sie möglichst viele Menschen ansprechen. Ist das eine gute Idee?
Davon halte ich wenig. Denn wenn’s ums Geld geht, würden wir überhaupt nicht impfen. Wir bekommen 20 Euro pro Impfung, der Piks ist zwar in zwei Sekunden erledigt, aber die Vor- und Nachbereitung ist sehr aufwändig. Besser wäre es, ein Anreizsystem für Impflinge zu schaffen. Bei Impfgegnern ist das verlorene Liebesmüh, da kann man sich den Mund fusselig reden. Aber wichtig wäre, etwa Menschen mit Migrationshintergrund besser zu erreichen. Mit mobilen Impfteams in den Hochhaussiedlungen allein wird das nicht gelingen.

Belastungen kommen auf die Hausärztinnen und -ärzte aber nicht nur wegen eines möglichen Ansturms aufgrund der Aufhebung der Priorisierung zu. Sondern auch, weil sie den analogen Impfpass in eine verifizierte digitale Version bringen sollen. Wird das bis Juni klappen?
Ja, bis Juni 2030 ganz bestimmt.



Das klingt jetzt wenig optimistisch.
Im Ernst, ich sehe gerade nur Ankündigungen, die nicht zu schaffen sind bis Juni, also bis in zweieinhalb Wochen. Die Praxisverwaltungssysteme sind sehr unterschiedlich und teils nicht miteinander kompatibel. Da braucht es erstmal eine Software, die bei allen funktioniert. Und die hätte schon längst aufgespielt werden müssen, damit das im Juni funktioniert.

Hakt es denn beim digitalen Impfpass allein an technischen Problemen?
Nein, neben den technischen Fragen kommt der Aufwand hinzu: Wie sollen die Arztpraxen den normalen Betrieb schaffen, wenn sie jetzt Millionen geimpften Menschen auch noch ihren digitalen Impfausweis ausstellen sollen? Wir sind doch nicht das Passamt. Das werden wir sicher nicht machen. Die Impfzentren wären dafür der passendere Ort, da laufen viele Menschen rum, die vielleicht noch Kapazitäten dafür haben.  

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Ob analog oder digital, viele Menschen hoffen, dass der Impfpass für sie die Eintrittskarte zurück ins normale Leben wird. Gehen Sie wie SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach auch davon aus, dass es ein super Sommer wird?
Leider besitze ich keine Glaskugel – und wenn, dann hätte ich gerne eine, die genauere Aussagen treffen kann. Deshalb würde ich mich mit Prognosen zurückhalten. Wünschen würde ich mir einen super Sommer aber selbstverständlich, dann darf’s auch gerne ein bisschen mehr Sonne sein als jetzt.

Mehr zum Thema: Die USA unterstützen Indien bei der Forderung, Patente auf Corona-Impfstoffe auszusetzen. Beiden Ländern geht es nicht nur um Linderung der Pandemie, sondern mindestens so sehr um Industrieinteressen.

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