Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) Mehr Schaden als Nutzen

Versicherte sparen viel Geld, wenn sie auf die kostenpflichtige Sonderleistungen verzichten. Nicht nur das: Individuelle Gesundheitsleistungen halten häufig nicht, was sie versprechen. Manchmal sind sie sogar gefährlich.

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Seit fünf Jahren prüft der medizinische Dienst des Spitzenverbands der Krankenkassen, die verschiedenen IGeL-Leistungen für die gesetzlichen Krankenkassen auf ihren Nutzen, anhand der medizinischen Fachliteratur. Heute zog er Zwischenbilanz. Quelle: dpa

Berlin Ob Messungen des Augeninnendrucks zur Früherkennung eines grünen Stars, Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung oder der PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs. In der Arztpraxis bekommt inzwischen jeder zweite Patient individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) angeboten, die er aus eigener Tasche bezahlen muss. Der ehemalige Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen Gerd Billen, inzwischen Staatssekretär im Justizministerium, nannte sie einmal durchaus abfällig gemeint „die Haustürgeschäfte“ des niedergelassenen Arztes.

Diese Untersuchungen können schon mal leicht 60 oder auch mehrere hundert Euro kosten. Maßgeblich ist die Gebührenordnung für Privatpatienten. Billen hat wohl nicht ganz Unrecht. Glaubt man dem  IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbands der Krankenkassen (MDS), dann helfen die Extra-Leistungen vor allem finanziell dem Arzt und reißen unnötig Löcher in die Geldbörse der Patienten.

Doch nicht nur von Kassen und dem MDS, sondern auch in der Ärzteschaft werden viele dieser Angebote kritisch gesehen. Dennoch bieten Ärzte ihren Patienten immer häufiger IGeL an. Jeder dritte Versicherte gab 2015 bei einer Umfrage im Auftrag des Wissenschaftlichen Dienstes der AOK (Wido) an, in den vergangenen zwölf Monaten vom Arzt Zusatzleistungen auf eigene Rechnung offeriert bekommen zu haben – eine extreme Steigerung gegenüber 2001. Damals hatte nicht mal jeder zehnte Befragte (8,9 Prozent) ein derartiges Angebot erhalten.

Seit fünf Jahren prüft der medizinische Dienst des Spitzenverbands der Krankenkassen die verschiedenen IGeL-Leistungen für die gesetzlichen Krankenkassen auf ihren Nutzen. Grundlage ist die medizinische Fachliteratur. Nun zog er Zwischenbilanz. Und die sieht für die Ärzte eher finster aus: Von den 45 Leistungen fielen 17 glatt durch.

Bei diesen wird der zu erwartende Schaden für den Patienten höher bewertet als der Nutzen. Bei 15 weiteren Bewertungen kommt das Wissenschaftlerteam zu dem Schluss, dass die Schaden-Nutzen-Bilanz unklar ist. Nur drei der kostenpflichtigen Angebote werden tendenziell positiv bewertet. Keine einzige IGeL-Leistung erhielt die Note positiv. Für den Sport-Check und das ärztliche Attest gibt es gar keine Noten.

Trotzdem nehmen Versicherte die Leistungen in Anspruch. Zwar ist der Arzt verpflichtet, den Patienten ausgiebig zu beraten. Doch das geschieht trotz entsprechender Leitlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung oft nicht. „Aus zahlreichen Zuschriften wissen wir, dass sich viele Patienten mit ihrer Entscheidung über eine IGeL-Leistung alleine gelassen fühlen“, sagt Peter Pick, Geschäftsführer des MDS. So gab nur jeder Vierte bei einer Befragung des IGeL-Monitor an, mit den Informationen zu möglichen Schäden zufrieden zu sein. „Wir wollen mit unserem Monitor dieses Informationsgefälle verringern“, sagt Pick.

Zwei Leistungen schließen nicht nur „tendenziell negativ ab“, sondern können sogar Schäden verursachen. Da ist zum einen der Lungenfunktionstest, bei der mit einem Gerät das Lungenvolumen festgestellt wird und wie schnell jemand ausatmet. Dadurch sollen angeblich Lungenerkrankungen wie Asthma Bronchiale und die obstruktive Lungenerkrankung, auch Raucherlunge genannt, früher erkannt werden können. Tatsächlich fanden die Wissenschaftler keinerlei Hinweise, dass eine beginnende Erkrankung durch den Test zuverlässig diagnostiziert werden kann.

Zu befürchten seien dagegen Schäden durch Falschdiagnosen und Übertherapie. Ähnliches gilt für das Herz-EKG zur Erkennung einer koronaren Herzkrankheit. „Generell lässt sich sagen“ so Michaele Eickermann, Leiterin des Bereichs evidenzbasierte Medizin beim MDS, „dass solche angeblichen Früherkennungsuntersuchungen bei Patienten zwar sehr beliebt sind, aber am Ende nur eine falsche Sicherheit vortäuschen.“

Hier sei in den vergangenen Jahren ein unübersichtlicher Markt entstanden. Viele Ärzte nutzten den von den  Krankenkassen für Versicherte über 35 alle zwei Jahre bezahlten „Check-Up“, um den Versicherten zusätzliche IGeL-Leistungen anzubieten. Hier sei immer Skepsis angebracht, so Eickermann. Es komme leider immer noch vor, dass Ärzte die Patienten regelrecht unter Druck setzen IGeL-Leistungen zu kaufen. „Das ist nicht hinnehmbar“, so Pick.   

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