Industriepolitik Deutsche Wirtschaft befürchtet schleichende Deindustrialisierung

Der Standort Deutschland verliert dem Industriepräsident Siegfried Russwurm zufolge an Wettbewerbsfähigkeit. Quelle: dpa

Industrie-Strompreise, lange Genehmigungsverfahren und eine „Datenangst”: Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften gehen mit Sorgen ins neue Jahr. Was bedeutet das für den Standort Deutschland?

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Die deutsche Wirtschaft sieht die zunehmende Gefahr einer schleichenden Deindustrialisierung in Deutschland – mit möglichen Folgen für viele Jobs. Industriepräsident Siegfried Russwurm sagte der Deutschen Presse-Agentur in Berlin, der Standort Deutschland habe zahlreiche „Handicaps” und verliere an Wettbewerbsfähigkeit. DIHK-Präsident Peter Adrian warnte vor einer zunehmenden Verlagerung von Produktion ins Ausland.

DGB-Chefin Yasmin Fahimi kündigte an, die Gewerkschaften würden die Fragen, wie wettbewerbsfähige Industrie-Strompreise sichergestellt werden könnten, im nächsten Jahr ganz vorne auf die Tagesordnung in den Gesprächen mit der Bundesregierung setzen. „Je tiefer die Schnitte in die Wertschöpfungskette werden, je mehr Unternehmen der Wertschöpfungskette Deutschland verlassen, desto dramatischer wird der Dominoeffekt sein.”

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Der Chef der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, hatte eine rundum neu entwickelte Industriepolitik für Deutschland und Europa verlangt. Nur so ließen sich die nötigen Anreize für ökologisch tragfähige Investitionen sowie den Erhalt von Arbeitsplätzen schaffen - und weitere Abwanderungen etwa nach China oder in die USA verhindern.

Habeck: 2023 steht im Zeichen der Industriepolitik

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte eine aktivere Industriepolitik Deutschlands und der EU angekündigt. Er sagte Ende November auf einer Industriekonferenz, das nächste Jahr stehe im Zeichen der Industriepolitik. Ziel sei es, die Standortsicherheit auszubauen und den grundlegenden Wandel hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft voranzutreiben.

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Hintergrund ist auch das US-Inflationsbekämpfungsgesetz, das milliardenschwere Investitionen in den Klimaschutz vorsieht. Subventionen und Steuergutschriften sind daran geknüpft, dass Unternehmen US-Produkte verwenden oder selbst in den USA produzieren. Daran gibt es viel Kritik in Europa, wo man Nachteile für heimische Unternehmen befürchtet.

Adrian sagte: „In Amerika betragen die Strompreise ein Fünftel dessen, was wir jetzt hier in Deutschland aufbringen. Beim Gas ist es derzeit ein Siebtel.” Eine Abwanderung von Industrieproduktion ins Ausland sei ein schleichender Prozess. „Wir werden einen Strukturwandel unserer Wirtschaft erfahren.”

DIHK: Unternehmen werden Steine in den Weg gelegt

Deutschland und die EU müssten bürokratische Hemmnisse beseitigen und Planungsverfahren beschleunigen, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). „Das ist in anderen Ländern wesentlich einfacher und unkomplizierter, weil sie ziel- und lösungsorientiert arbeiten - während bei uns Unternehmen häufig die Erfahrung machen, dass ihnen Steine in den Weg gelegt werden.” Das sei für Deutschland ein großes Ansiedlungshemmnis.

Russwurm sagte: „Wir sind viel zu langsam, Stichwort Genehmigungspraxis. Die Unternehmensteuern sind im internationalen Vergleich zu hoch.” Es brauche mehr steuerliche Anreize für Investitionen in Deutschland. „Die Energiepreise sind überfrachtet mit Steuern und Abgaben. Das können wir uns nicht mehr leisten im globalen Wettbewerb. Die aktuelle Krise ist nicht nur eine kleine Konjunkturdelle. In der grünen und digitalen Transformation gibt es für die Regierung immense Aufgaben zu erledigen.” So sollte die Bundesregierung ein umfassendes Bürokratieentlastungsgesetz umsetzen.

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Die Produktionsrückgänge in den energieintensiven Industrien in diesem Jahr seien ein Risiko für wichtige Wertschöpfungsketten, sagte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). „Die Standortbedingungen für diese Branchen haben sich durch den Krieg und die Lage an den Energiemärkten dauerhaft verschlechtert. Aber uns sind die Instrumente abhandengekommen, diese Verschlechterung frühzeitig zu erkennen: Wir haben viele Jahrzehnte gelernt, dass die Arbeitslosenquote ein guter Indikator ist, wie es unserer Wirtschaft geht. Und plötzlich gilt diese Regel nicht mehr, weil wir mehr als 400.000 Arbeitskräfte netto jedes Jahr verlieren.”

Aus dem Fachkräftemangel sei ein Arbeitskräftemangel geworden, so Russwurm. „Aber aus vielen offenen Stellen und hoher Beschäftigung den Schluss zu ziehen, der Industrie und dem Land gehe es gut, ist eine gefährliche Fehleinschätzung.” Auch positive Ergebnismeldungen der letzten Zeit dürften nicht darüber hinweg täuschen, dass viele Unternehmen ihre Gewinne vor allem in ihren Auslandsgesellschaften machten.

Russwurm: Chancen verpasst wegen zu viel Datenschutz

„Es ist heute schon so, dass international aktive deutsche Konzerne ihre neuen Produkte leider nicht in Deutschland entwickeln, sondern woanders, wegen strikter oder zu vieler Vorgaben hier”, sagte Russwurm. Das maßgebliche Regelungswerk für die Datenwirtschaft, der Data Act, müsse europäische Datenräume schaffen, um Skaleneffekte wie in den USA oder in China zu ermöglichen.

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