Für den Bundeskanzler ist es eigentlich ein Pflichttermin: Einmal jährlich überreichen die „Innovationsweisen“, die Mitglieder der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), ihr Gutachten zur Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Doch Olaf Scholz (SPD) ist derzeit vor allem mit Russlands Krieg gegen die Ukraine beschäftigt, deshalb findet das Treffen heute allein mit Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) statt – und die bekommt von den Expertinnen und Experten gleich einen großen Hausaufgabenzettel mit.
Denn die sechsköpfige Kommission, die vom Jenaer Ökonom und Professor Uwe Cantner geleitet wird, ist besorgt um die Zukunft der Bundesrepublik. „Deutschland zeigt in der Entwicklung von Digitalen Technologien erhebliche Schwächen“, warnen die Expertinnen und Experten in ihrem Gutachten. Es bestehe „die Gefahr, den Anschluss in dieser zentralen Schlüsseltechnologie zu verlieren“.
KI, Quantencomputing und Microchips
Ein fatales Zeugnis, gerade mit Blick auf die aktuelle Debatte um Deutschlands Abhängigkeit von anderen Ländern. Denn während aktuell vor allem um die Energieversorgung geht, werden digitale Technologien für die Wettbewerbsfähigkeit künftig immer entscheidender: Künstliche Intelligenz, Mikrochips und Quantencomputing – nur drei Bereiche, in denen die Bundesrepublik bereits abhängig ist oder zu werden droht von Ländern in Asien und den USA.
Zwar seien internationale Arbeitsteilung und Außenhandel grundsätzlich vorteilhaft – doch könnten Schieflagen auftreten, warnt die Kommission. Angesichts der zunehmenden Konkurrenz zwischen der westlichen Welt und China steige das Risiko, „dass wir künftig auf wichtige Technologien nicht mehr verlässlich zugreifen können“, erklärt Carolin Häussler, EFI-Mitglied und Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Passau.
China hat sich Spitzenpositionen erarbeitet
So habe sich China in den vergangenen 20 Jahren eine Spitzenposition in der Forschung, Anwendung und beim Handel mit fast allen Schlüsseltechnologien erarbeitet, sei für Deutschland heute der wichtigste Lieferant von digitalen Technologien sowie Produktions- und Materialtechnologien – eine Abhängigkeit, die der EFI-Kommission Sorgen macht.
Denn Deutschlands Stärken in den Produktionstechnologien sowie den Bio- und Lebenswissenschaften würden dadurch geschwächt – gerade, weil die digitalen Technologien quasi ein goldener Schlüssel für die künftige Innovationen und Wettbewerbsfähigkeit sind.
Deutlich werde dies etwa an den Steuerungschips. Sie seien für moderne Produktionsverfahren ebenso unersetzlich wie für neue Energie- und Mobilitätskonzepte. „Autonomes Fahren wird es ohne Chips und Halbleiter nicht geben“, betont Cantner.
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Mutigere Entscheidungen bei Flops
Die EFI-Kommission fordert von der Ampel-Koalition deshalb eine bessere „Schlüsselstrategie“: „In welchen Schlüsseltechnologien sind wir schwach? Wo sind wir stark? Wo holen wir auf? Wo sind junge Schlüsseltechnologien versteckt? Das muss von der Regierung deutlich systematischer erfasst werden als bisher“, erklärt Cantner. Nur dann sei eine gezielte Förderung und Steuerung möglich, eine „missionsorientierte Politik“.
Die EFI-Kommission schlägt vor, ein unabhängiges Beratungsgremium zu gründen. Es könne für die Regierung etwa ein kontinuierlich aktualisiertes Technologie-Portfolio erstellen. Deutlich mutigere Entscheidungen wünscht sich die Kommission auch bei drohenden Flops.
Bloß keine Dauersubvention
Die europäische Cloud-Allianz Gaia-X, mit der sich Deutschland eigentlich unabhängiger von amerikanischen Hyperscalern wie Microsoft, Google und Amazon Web Services (AWS) machen will, sieht sie beispielsweise kritisch. „Wenn ein Projekt nicht zum Fliegen kommt, dann muss es auch beendet werden“, fordert Cantner. „Auch grundsätzlich gute Ideen dürfen nicht in der Dauersubvention enden, wenn sie sich als nicht umsetzbar erweisen“, erklärt Cantner mit Blick auf die 2019 gestartete Cloud-Allianz, der mit ihren mehr als 300 Mitgliedern bisher nicht der Durchbruch gelungen ist.
Dabei hat die EFI gegen industriepolitische Maßnahmen grundsätzlich nichts einzuwenden. Sie sollten allerdings „einen anstoßenden, katalytischen Charakter haben“, betont Cantner, also nach einiger Zeit wieder zurückgenommen werden. Dabei müsse die Förderung unbedingt europäisch organisiert werden, denn „eine starke Position an der weltweiten Spitze ist für Deutschland nur im Verbund mit den übrigen EU-Ländern möglich.“
Um das zu erreichen, empfiehlt die EFI-Kommission, stärkere Akzente bei der Grundlagen- und angewandten Forschung von Schlüsseltechnologien zu setzen. Auch über das Bildungssystem müssten dafür gezielter Kompetenzen aufgebaut werden.
„Digitalisierungsmüdigkeit“ bei Mittelständlern
Auch die Wirtschaft sieht die Innovationsweisen in der Pflicht. Gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen sei eine „Digitalisierungsmüdigkeit“ zu beobachten, kritisiert Cantner: „Die Auftragsbücher sind derzeit noch voll, viele Betriebe spüren noch nicht den Druck der Transformation, was mittelfristig jedoch zu erheblichen Problemen bei der Wettbewerbsfähigkeit führen kann“, warnt er.
Dabei würden Unternehmen bei der Kommerzialisierung von Schlüsseltechnologien die entscheidende Rolle spielen. Doch um sie einzusetzen, sind Normen und Standards gefragt – auch hier sei dringend mehr Engagement für europäische Interessen notwendig, betont EFI-Mitglied Häussler: „Ansonsten werden die Weichen von anderen Regionen in der Welt gestellt.“
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