Industriestrategie „Industriepolitik ist in der Zeitenwende wichtiger denn je“

Peter Altmaier war von 2018 bis 2021 Bundeswirtschaftsminister. Unter Kanzlerin Angela Merkel leitete er zuvor das Kanzleramt und das Bundesumweltministerium. Quelle: REUTERS

Die Kraft des Westens wird fast völlig vom Krieg Russlands gegen die Ukraine absorbiert. Währenddessen konzentrieren sich die jungen asiatischen Volkswirtschaften auf die Zukunft. Politik und Wirtschaft müssen sich auch bei uns unterhaken. Ein Gastkommentar vom ehemaligen CDU-Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier.

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Unsere Wirtschaft wird derzeit einem gewaltigen Stresstest unterzogen: Putins Krieg gegen die Ukraine, Sanktionen, Unsicherheiten bei der Energieversorgung, hohe Inflation, abkühlende Konjunktur, nachhaltige Störung von Lieferketten, Fachkräftemangel, unbewältigte Pandemiefolgen. Dazu disruptive Veränderungen in den Bereichen Technologie (Digitalisierung, Biotech), Ökologie (Klimaschutz) und Politik (Aufstieg Chinas), wie es sie in diesem Ausmaß seit Beginn der Industrialisierung vor über 200 Jahren nicht gegeben hat.

Dass infolgedessen die bisherigen Wachstumsprognosen Makulatur sind, ist das eine. Viel wichtiger ist aber, dass wir noch weit von einem zusammenhängenden Handlungskonzept mit klaren Prioritäten (und Posterioritäten) entfernt sind. Während der Wirtschaftsminister sich mutig dafür einsetzt, dass Flüssiggasterminals, die seine Partei lange abgelehnt und bekämpft hat, endlich realisiert werden, arbeiten andere in der Ampelregierung unverdrossen an mehr Sozialausgaben und Bürokratie. Auf der einen Seite werden seit Wochen ein sofortiger Boykott und der Verzicht auf russisches Gas gefordert, auf der anderen Seite herrscht blankes Entsetzen, dass Putin nun seinerseits das Gas als politische Waffe begreift. Und die wohl größte Gefahr von allen: Während die Aufmerksamkeit des Westens fast völlig vom Krieg gegen die Ukraine absorbiert wird, konzentrieren sich die jungen asiatischen Volkswirtschaften mithilfe ihrer Regierungen auf das Erschließen neuer Märkte und Marktanteile.

Als ich 2019 meine Industriestrategie vorlegte, verband ich damit die Hoffnung auf eine breite Debatte. Stattdessen zogen sich viele in ideologische Schützengräben zurück: Diejenigen, die damals das Banner der reinen Lehre der Marktwirtschaft besonders hochgehalten haben, sind heute oftmals diejenigen, die die Politik am lautesten für Nicht-Handeln in der Vergangenheit kritisieren. Einiges von dem, was mir besonders am Herzen lag, konnte gleichwohl umgesetzt werden, wie der Aufbau einer EU-Batteriezellproduktion, die mit der Wirtschaft beschlossenen Handlungskonzepte für den Stahl- und Chemiesektor, die Wasserstoffstrategie, der Ausbau des Halbleiterstandortes, die Reform des Außenwirtschaftsrechts, um Übernahmen strategisch wichtiger Unternehmen besser verhindern zu können. Dazu mehrere Milliarden Euro für die Transformation der Automobilwirtschaft.

Übrigens: Auch der Bau von LNG-Terminals in Wilhelmshaven und in Brunsbüttel wurde seit 2019 durch Geld und Gesetze energisch vorangetrieben. Dennoch ging es damals nicht voran, weil die Gesetze von Angebot und Nachfrage von alleine nicht dazu führten, dass die notwendigen Kapazitätsbuchungen zustande kamen. Die Diversifizierung von Lieferketten, um so einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden, war ein wichtiges Projekt der deutschen EU-Präsidentschaft, das von allen begrüßt wurde; aber kaum ein Unternehmen hat seither von sich aus gehandelt.

Wir brauchen deshalb – heute mehr denn je – einen breiten Konsens von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, dass unser Land auch künftig ein erfolgreiches Industrieland mit wettbewerbsfähigen und gut bezahlten Arbeitsplätzen bleiben muss. Der Wirtschaftspolitik muss weit mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung zuteil werden, als dies in der Vergangenheit oft der Fall war, gerade weil wir klimaneutral werden wollen.



Fast alle anderen Ländern außerhalb Europas verfolgen seit vielen Jahren ihre eigene Industriestrategie: Zuvörderst China und Japan, aber auch die USA, Russland und Südkorea. Private und staatliche Akteure handeln oftmals abgestimmt und konzertiert. Das zeigt sich zum Beispiel an der weltweiten Akquise großer Eisenbahnprojekte durch den chinesischen Konzern CRRC in Verbindung mit staatsnahen Banken. Würde Europa auf industriepolitische Flankierung verzichten, würden wir unsere Unternehmen und ihre Arbeitnehmerschaft im Regen stehen lassen. Wenn unsere Wettbewerber nicht bereit sind, auf Subventionen und Markteingriffe zu verzichten, muss Europa seine eigenen Interessen notfalls durch Regulierung sichern. Darauf glaubwürdig hinzuweisen, erhöht die Chancen auf einen Konsens zur WTO-Reform bereits beträchtlich. Noch ist Europa stark, sodass wir gute Chancen haben, regelbasierte Lösungen international durchzusetzen. Aber in einigen Jahren werden sich die Gewichte verschoben haben.

Wie immer der Krieg gegen die Ukraine für Russland endet: Wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, dass am Ende das Hochtechnologieland China mit dem rohstoffreichen Russland und mit dem Fachkräfte-Hub Indien einen mächtigen Wirtschaftsraum bilden könnte, der die globalen Kräfteverhältnisse faktisch ins Gegenteil verkehrt. „Gegen eine Welt von Feinden“ konnten weder Napoleon noch das wilhelminische Deutschland bestehen. Wenn wir, was richtig ist, die Ukraine durch weitreichende Sanktionen gegen Russland unterstützen, sollten wir umso mehr die in langen Jahrzehnten gewachsenen Bindungen und Verflechtungen mit Ländern in Asien, Südamerika und Afrika stärken.

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Vor 200 Jahren nahm die industrielle Revolution in Europa, in England, Frankreich und Deutschland ihren Ausgang. Längst ist sie in (fast) allen Ländern der Welt angekommen. Aber wenn wir vermeiden wollen, dass die „alten“ Arbeitsplätze in Europa wegfallen und die „neuen“ Arbeitsplätze überall sonst auf der Welt entstehen, müssen wir entschlossen handeln.

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