Infrastruktur Mammutaufgabe Kanalsanierung: Kommunen müssen Milliarden aufbringen

Die Kanalisation in Deutschland wächst seit Jahren kontinuierlich. Für die Modernisierung könnten Kosten in Milliardenhöhe auf die Kommunen zu kommen.

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Unternehmen gehen da von aus, dass in vielen Regionen die Investitionen in die Kanalisation steigen müssen. Quelle: dpa

Essen Die Kommunen in Deutschland stehen vor zusätzlichen Milliardeninvestitionen in ihre Kanalnetze. Schon jetzt fließen nach Angaben des Stadtwerkeverbandes VKU bundesweit pro Jahr mehr als vier Milliarden Euro in den Erhalt und die Erneuerung der Abwasserinfrastruktur. Doch dieses Geld reicht nicht aus, um marode Rohre zu ersetzen und die Kanalisation so zu erweitern, dass sie bei Starkregen nicht sofort an ihre Kapazitätsgrenzen stößt.

Erhalt und Erneuerung der Infrastruktur seien „eine Mammutaufgabe“, betonte ein VKU-Sprecher. Drei Viertel der kommunalen Unternehmen seien schon vor zwei Jahren bei einer VKU-Umfrage davon ausgegangen, „dass in vielen Regionen die Investitionen in den kommenden Jahren weiter ansteigen müssen“.

Das Netz der öffentlichen Abwasserkanäle in Deutschland wächst seit Jahren kontinuierlich. Mittlerweile hat es nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes eine Gesamtlänge von knapp 600.000 Kilometern, fast ein Drittel mehr als noch 1995.

Ein Grund für den Zuwachs: Regen- und Schmutzwasser wird zunehmend durch getrennte Rohre abgeführt. „Für ein Neubaugebiet braucht man deshalb etwa doppelt so viele Kanalmeter wie bei einem gemeinsamen Rohr für Mischwasser“, erläuterte Christian Berger von der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA).

Die Kanalisation gehört zu den wertvollsten Investitionsgütern der Kommunen. Auf mehr als 600 Milliarden Euro hatte das Institut für Unterirdische Infrastruktur (IKT) den Wiederbeschaffungswert für die gesamte öffentliche Kanalisation in Deutschland im Jahr 2015 taxiert.

Und in welchem Zustand ist dieser Schatz unter der Erde? Die DWA hat auf der Basis ihrer regelmäßigen Befragungen der Kommunen errechnet, dass bei etwa 20 Prozent der Rohre ein kurz- bis mittelfristiger Sanierungsbedarf bestehe.

Immerhin ist ein Drittel der Kanalisation älter als 50 Jahre. Aber auch 31 Prozent der Rohre liegen noch keine 25 Jahre in der Erde, haben also die laut VKU durchschnittliche Lebensdauer von 60 Jahren noch lange nicht erreicht.

Zudem gilt die Faustregel „je älter, umso sanierungsbedürftiger“ nicht unbedingt. Nicht das Alter sei entscheidend, sondern Bauart und verwendete Materialien, sagte IKT-Geschäftsführer Roland Waniek, dessen Institut die Kommunen bei allen Fragen rund ums Abwasser berät.

„Da machen uns nicht so sehr die Kanäle, die 100 Jahre alt sind, die großen Sorgen.“ Das seien eher die in den 1950er- und 1960er-Jahren verlegten Rohre. „Da wissen wir nicht, ob beim Bau auf die heutigen Qualitätsstandards geachtet wurde.“

Geht es nach der Bauindustrie, müsste möglichst schnell ein großangelegtes Programm zur Sanierung des Kanalnetzes starten. Allein in Nordrhein-Westfalen gebe es bei Sanierung und Neubau ein Investitionsdefizit von bis zu 1,3 Milliarden Euro pro Jahr, rechnet der Branchenverband im bevölkerungsreichsten Bundesland vor. „Die Kanäle stehen heute kurz vor dem Zusammenbruch“, hatte die Hauptgeschäftsführerin des Bauindustrieverbands NRW, Beate Wiemann, kürzlich in der „WAZ“ Alarm geschlagen.

Doch beim VKU winkt man ab. „Wer pauschal 50 Jahre alte Leitungen aussortieren will, ist wohl eher ein Verkäufer als ein Ingenieur“, kritisierte ein Sprecher. „Wassernetze sind kein Massenprodukt von der Stange, sondern ein Maßanzug.“ Deshalb müsse jede Kommune einzeln prüfen, was bei ihr nötig sei.

Und das gilt auch für die Vorbeugung bei Starkregen. Der Deutsche Wetterdienst hatte unlängst nach der Auswertung von Radaraufnahmen aus 17 Jahren gewarnt, dass die Gefahr solcher Wetterereignisse unterschätzt werde. So müsse etwa Norddeutschland mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit mit Starkregen rechnen als bisher angenommen, sagte der DWD-Meteorologe Andreas Becker.

Darauf mit einer Erweiterung der Kanalisation zu reagieren, wäre nach Einschätzung des Infrastrukturexperten Waniek nicht unbedingt die richtige Entscheidung. „Die Straßen aufreißen und neue Kanäle verlegen würde lange dauern und wäre sehr teuer.“ Das sei sicher nicht im Sinne der Gebühren- und Steuerzahler. „Deshalb sollte man schauen, was man oberirdisch machen kann.“

Waniek empfiehlt beispielsweise, Kinderspielplätze als Versickerungsflächen zu nutzen. Oder bei großen Parkplätzen unterirdische Speicher anzulegen. „Die Speicher können dann das Regenwasser nach und nach in die Kanalisation oder die Natur wieder abgeben.“ Jedenfalls stimme die generelle Aussage, dass das Kanalnetz in Deutschland zu klein dimensioniert sei, sicher nicht.

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